Amazonen Undercover – „Girl, Woman, Other“ von Bernadine Evaristo

Die Menschen, die einem in Evaristos Roman Girl, Woman, Other begegnen, sind alle auf ihre Art außergewöhnlich. Sie selbst sehen sich nicht immer so, aber viele von ihnen sind sehr selbstbewusste Frauen, die ihren Weg gehen und sich bewusst sind, dass sie damit anecken. Manchmal reichen da schon Kleinigkeiten wie eine außergewöhnlicher Kleidungsstil, manchmal ist es gleich der ganze Lebenswandel. In einem Kapitel bündelt Evaristo jeweils die Lebenswege von drei Personen, die sich besonders nahe stehen. Aber auf subtilere Art sind die meisten der Biographien miteinander verbunden.

Was ihnen gemein ist: sie alle sind Schwarz, sie alle definieren sich als weiblich oder wurden an einem Punkt ihres Lebens so sozialisiert. Den Rahmen bildet die Aufführung von „The Last Amazon of Dahomey“, einem skandalösen Theaterstück von Amma, das es unglaublicherweise auf die ganze große Bühne geschafft hat. Amma ist Theaterregisseurin und -autorin und zugleich verbindendes Element der meisten Menschen, die in diesem Roman auftauchen und natürlich auch bei ihrer großen Premiere: Carol, die nicht versteht, warum ihre nigerianische Mutter auf keinen Fall, dass sie einen Weißen heiratet. Dominique, die sich Hals über Kopf verliebt und zu spät merkt, dass ihre Partnerin gewalttätig wird. Shirley, die als Lehrerin immer allen helfen will und sich in Ammas glamourösem Freundeskreis ziemlich Fehl am Platz fühlt. Nicht alle definieren sich als Feministinnen und sind es vielleicht doch.

„I like men, I like being domesticated and I love your father, so how can I be a feminist?“

Evaristos Stil ist dabei sehr offen und außergewöhnlich und fließend. Sie verzichtet größtenteils auf Interpunktion und beendet Sätze mit einem Zeilenumbruch. Der Roman wirkt daher fast wie eine epische Dichtung und immer wieder gleitet der Stil auch wirklich ins Lyrische. Bei aller Kunstfertigkeit wirkt das aber nicht gekünstelt und ist auch sehr, sehr zugänglich. Das ist besonders bemerkenswert, wenn man beachtet, welch großen Themen sich Evaristo widmet. Sie erzählt nicht einfach aus dem Leben von zwölf Frauen, sondern lenkt den Blick auf die großen Themen, die sie beschäftigen, trennen und einen. Sie alle vertreten ihre Positionen, die aber nicht gewertet werden, sondern gleichberechtigt nebeneinander existieren dürfen.

Sie alle haben ihre Erfahrungen gemacht mit Rassismus, Sexismus, Ausgrenzung, Hass und Angst, sie alle haben gekämpft und Zugeständnisse gemacht. Keiner dieser Kämpfe ist weniger wert als ein anderer. Sie alle haben ihre Meinung zu ihrer Identität, zur Bedeutung ihrer Herkunft und ihrer Sexualität. Die jüngere Generation mag sich anders definieren als die ältere, ist aber deshalb nicht mehr oder weniger im Recht. Alles fließt und ändert sich von einer Frau zur nächsten, von einer Generation zur nächsten. Auch bei der Darstellung dieser sehr unterschiedlichen Perspektiven gelingt es Evaristo, nicht schablonenhaft zu werden. Bei keiner Figur hat man das Gefühl, sie sei nur da, um ihre Stimme auch noch unterzubringen, sie alle sind überzeugend dargestellt.

Evaristo hat keine Lösung und keine Antwort für die Fragen, die sie aufwirft. Sie stellt sie zur Diskussion und macht zugleich klar, dass es keine richtige Antwort geben kann und keine Deutungshoheit existiert. Der Kampf, den ihre Figuren kämpfen, ist alt und er wird noch viel älter werden. Sie lassen sich davon nicht unterkriegen und kämpfen weiter, jeden Tag, während sie sich verlieben, Kinder bekommen, Karriere machen. Und so ist dann auch der Roman darüber kein verbitterter Kriegsbericht, sondern von außergewöhnlicher Leichtigkeit und Raffinesse.


tl;dr: Ein außergewöhnlicher und völlig undogmatischer Roman über Feminismus, Rassismus und alles, was im Umfeld davon passiert und Leben tangiert.


Bernadine Evaristo: Girl, Woman, Other. Penguin UK 2019. 452 Seiten. Eine deutsche Übersetzung von Tanja Handels ist unter dem Titel Mädchen, Frau etc. bei Klett-Cotta erschienen.

Das Zitat stammt von S. 319

2020 war dieser Roman auf der Shortlist des Women’s Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des gleichnamigen Leseprojekts.

3 Gedanken zu “Amazonen Undercover – „Girl, Woman, Other“ von Bernadine Evaristo”

  1. In der Tat, ein sehr undogmatischer Roman … als ich ihn aber las, überkam mich irgendwann das Gefühl, dass sie ihr Glück in Defragmentierung nicht in Sammlung sucht, also eben nicht episch langsam zeitlos verfährt, sondern rasend in Überlichtgeschwindigkeit. Meine Lieblingsstelle war nun auch die Flucht aus Nigeria, die Angst, die Zerstörung, all dies passte zum expressionistischen Gestus sehr gut, wie eben Kriegsbeschreibungen einer aufgelösten Welt. Ich war etwas ratlos, wie ich den Stil einordnete, und etwas ratlos ließ mich der Roman auch zurück. Ich fand nicht, dass die Autorin Partei für ihre Figuren ergreift. Marie NDiaye: „Die Rache ist mein“ fand ich viel ergreifender und mitreißender und besitzt eine sehr ähnliche Thematik.

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    1. Das stimmt, Partei ergreift sie nicht. Ich glaube aber auch nicht, dass sie das will. Die Figuren funktionieren viel mehr untereinander und sind ja auch so unterschiedlich, dass sich nicht für alle gleichzeitig Partei ergreifen lässt. Oder eben nur für ihren allerkleinsten gemeinsamen Nenner. Yazz, Ammas Tochter, fand ich z. B. total anstrengend. Darum geht es aber gar nicht, sondern darum, dass ihre Position, ihre Einstellung zu dieser Welt und ihrer Identität, gerechtfertigt und valide ist. Das kann man ja anerkennen, ohne sie unbedingt im engsten Freundeskreis haben zu wollen. Oder ohne sich mit der Figur identifizieren zu müssen/wollen. Damit bleibt das ganze abstrakter und geht einem weniger nahe, das stimmt. Aber es ermöglicht ein Nebeneinander sehr unterschiedlicher Perspektiven auf einen wirklich komplexen Themenkomplex, der ja alle diese Figuren tangiert und dem sie von indifferent bis kriegerisch begegnen.
      Für mich hat das gut funktioniert, weil es trifft, wie unterschiedlich und zuweilen atemlos diese Diskurse sind. Während die älteren Feminist*innen noch in der zweiten Welle hängen, ist die übernächste Generation schon in der Intersektionalität angekommen und hat für ihre Vorgänger*innen nur noch ein müdes Lächeln übrig. You’re from the ’70s, but I’m a ’90s bitch. Das ist nicht ganz Überlichtgeschwindigkeit, aber nah dran 🙂
      Mein Lieblings-Kapitel war übrigens Dominiques Zeit in den Frauendörfern, auch wenn ich gar nicht weiß, warum. Weil es so anders war als die Londoner Szenen? Schön war es ja nicht. Aber die aus Nigeria geflüchtete Bummi war meine Lieblingsfigur und auch die subjektiv sympathischste und am meisten geerdete von allen.

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      1. Oh ja, dieses Frauendorf-Kapitel war psychologisch sehr dynamisch und toll beschrieben. Es gibt so viele gute Eigenschaften von dem Buch, mich hat das Freischwebende etwas gestört, aber ich sehe völlig ein, dass das voll old-school ist, und ich mag den Gestus, bin mir aber nicht sicher, wie lang er vorhält. Ich werde sicherlich das nächste Evaristo-Buch gerne zur Hand nehmen. Ich sag nur noch mal Marie NDiaye. Ich finde, sie verbindet die Zeiten toll, die Zeit zwischen Ingeborg Bachmann und Evaristo. Ich bin auch gespannt, was du zu „Die Aufdrängung“ schreiben wirst.

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