Essen aus Büchern: Weihnachtsholzscheit aus Anne Webers „Annette, ein Heldinnenepos“

In Annette, ein Heldinnenepos erzählt Weber die außergewöhnliche Lebensgeschichte von  Anne Beaumanoir, einer französischen Neurologin und Aktivistin. In jungen Jahren war sie bei der Résistance aktiv und verhalf jüdischen Menschen zur Flucht, später schloss sie sich dem Kampf um die Befreiung Algeriens an. Rücksicht auf sich selbst und ihre Familie nahm sie dabei kaum und kam mehrfach mit den Gesetzen in Konflikt. Schließlich wurde sie zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt, bei der ihr aber aufgrund einer Schwangerschaft erleichterte Bedingungen zugestanden wurden. Diese nutzte sie letzlich zur Flucht.

Immerhin ein Weihnachtsfest aber verbrachte sie in Haft und mit dem Versuch, es ihr und ihren Mitinsassinnen ein bisschen nett zu machen:

„Die Politischen dürfen gemeinsam abendessen. Aus ihrem heimischen Ofen, worin Elise ihn gebraten hat, zaubert Annette den herkömmlichen Truthahn mit Maronenfüllung und irgendwoher auch den „Weihnachtsholzscheit“, was eine astrunde, ungemein fette Torte ist.“

Das Essen ist nicht der erhoffte Erfolg. Mitinsassin Djamila, inoffizielle Führerin der algerischen Insassinnen, ist zwar zunächst zufrieden mit dem Truthahn aus der Halal-Schlachterei, moniert dann aber Sauce und Ofen. Beides genügt muslimischen Anforderungen nicht, stellt sie fest, und in der stillen Nacht liegt Annette wach und grämt sich, dass sie in einem muslimisch geprägten Umfeld unbedingt ein christliches Fest feiern wollte.

Der Kuchen aber, die „ungemein fette Torte“ findet Gnade in Djamilas strengen Augen. Und wer am Ende der Adventszeit noch nicht genug hat von Zucker und Fett, kann sich in diesem Jahr auch daran versuchen:

Weihnachtsholzscheit

Teig:

  • 6 Eier
  • 100 g Zucker + etwas mehr zum Rollen
  • 1 Prise Salz
  • 100 g Mehl

Creme:

  • 200 g weiche Butter
  • 150 g Zucker
  • 100 g Zartbitterschokolade
  • 2 TL Kakaopulver
  • 4 Eigelb
  • 1 Ei

Den Ofen auf 180°C Umluft vorheizen. Ein Backblech mit Backpapier auslegen.

Die 6 Eier trennen. Die Eiweiße mit dem Salz zu einem festen Schaum schlagen. Dann 30 g des Zuckers unterrühren.

Die Eigelbe mit den übrigen 70 g schaumig schlagen.

Das Eiweiß zum Eigelb geben, das Mehl darüber sieben und vorsichtig unterheben, bis die Masse gleichmäßig ist.

Den Teig gleichmäßig auf dem Backblech verteilen und glattstreichen. 12 Minuten bei 180°C backen.

In der Zwischenzeit ein sauberes Geschirrtuch leicht anfeuchten. Ausbreiten und etwas Zucker darauf verstreuen. Sobald die Teigplatte fertig ist, diese auf das Handtuch stürzen. Das Backpapier abziehen und den Teig mit Hilfe des Handtuchs von den langen Seiten aus zu einer möglichst festen Rolle formen. In dieser Form auskühlen lassen.

Anschließend die Creme herstellen. Dazu erst die weiche Butter mit dem Zucker schaumig rühren. Im Wasserbad die Schokolade schmelzen und sie anschließend zusammen mit dem Kakao unter die Buttermasse rühren. Dann die Eigelbe nach und nach unterrühren und ganz zum Schluss das ganze Ei. Die Creme 20 Minuten kalt stellen.

Die Biskuit-Platte wieder vorsichtig ausbreiten und die Hälfte der Creme darauf verteilen. Dabei an den langen Seiten 2 cm Rand freilassen. Wieder zusammenrollen und am Rand etwas andrücken. Die restliche Creme darauf streichen und die ganze Rolle gleichmäßig damit bedecken. Mit einer Gabel ein Muster in die Creme ziehen, das an Baumrinde erinnert. Einige Stunden kaltstellen, bis die Creme ganz fest ist.

In Scheiben geschnitten ist der Holzscheit eine wirklich leckere Sache – aber Annette übertreibt sicher nicht, wenn sie sagt, es sei eine „ungemein fette“ Angelegenheit.


Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos. Matthes & Seitz 2020.

Das Zitat stammt von S. 134.

Mehr Essen aus Büchern gibt es schiefgegessen.

Eiskalte Sühne – „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ von Peter Høeg

Lange Zeit führte kein Weg vorbei an Smilla und ihrem Gespür für Schnee. Buch wie Verfilmung waren in den 90er große Erfolge und für viele die erste Konfrontation mit den schwierigen dänisch-grönländischen Beziehungen.

Fräulein Smilla lebt allein, ohne Lohnarbeit und immer sehr gut angezogen in einem eher unschönen Block in Kopenhagen. Mit dem Nachbarsjungen Jesaja pflegt sie ein enges Verhältnis, vor allem da dieser bei seiner alkoholkranken Mutter keine Geborgenheit findet. Zudem verbindet die beiden ihre grönländische Herkunft. Doch eines Tages liegt Jesaja tot vor dem Wohnblock, in dem sie beide leben. Er ist beim Spielen auf dem Dach verunfallt und hinuntergestürzt, so das schnelle Ermittlungsergebnis der Polizei. Smilla ist sich sofort sicher, dass das keinesfalls die Wahrheit sein kann. Nicht nur hatte Jesaja panische Höhenangst, an seinen Fußspuren erkennt die schneeerfahrene Grönländerin sofort, dass er gerannt und am Ende in seiner Verzweiflung gesprungen sein muss. Im festen Willen, Jesajas Mörder, denn nicht weniger als Mord kann es sein, zu finden, gerät Smilla in ungeahnte Verstrickungen und große Gefahr. Sie kann gar nicht ahnen, in welche Schlangengrube sie kopfüber springt, als sie bei Jesajas Beerdigung beschließt, seine Feinde zu finden.

„Ich frage mich zum x-ten Mal, wie ich hier gelandet bin. Ich kann die Schuld daran nicht ganz allein tragen, die Last ist zu schwer, ich muß auch Pech gehabt haben, irgendwie muß sich das Universum von mir zurückgezogen haben.“

Erzählt wird davon in den drei Teilen „Die Stadt“, „Das Schiff“ und „Das Eis“ und das verrät auch schon, wie die Handlung sich entwickelt: Weg von Kopenhagen und über das Wasser in Smillas alte Heimat, das mehr oder weniger ewige Eis von Grönland. Als vermeintliche Angestellte schließt sie sich einer geheimnisvollen Expedition an. Unterwegs findet Smilla nicht nur Gelegenheit, ihr Leben und ihr Verhältnis zur grönländischen Kultur zu reflektieren, sondern auch für etliche recht brutale Schlägereien. Doch wer auch immer sie zu hindern versucht: Smilla ist von ihrem Weg nicht mehr abzubringen. Jesajas gewaltsamer Tod gerät dabei recht schnell zum Nebenschauplatz, ist Smilla doch einer gewaltigen Verschwörung auf der Spur. Etwas gefährliches Lebendiges soll von Grönland nach Dänemark gebracht werden, das hat sie schnell raus, aber was kann es sein? (Ich hatte gehofft, es sei ein aufgetauter Säbelzahntiger oder so, das ist es nicht. Aber wer sowas mal lesen will, wird bei Lincoln Childs Nullpunkt fündig. Ich rate aber nicht dazu.)

Der Spannungsbogen hat manchmal beträchtliche Schwierigkeiten, seine Haltung zu bewahren, aber immerhin weiß man am Ende alles, was es über die dänische Schifffahrt und ihre Regularien zu wissen gibt. Man muss Høeg allerdings zu Gute halten, dass die Entwicklung der Geschichte tatsächlich unvorhersehbar bleibt, so mühsam der Weg zur Aufklärung mitunter auch ist. Das liegt vielleicht auch daran, dass das Ende so vergleichbar unspektakulär ist, dass man darauf gar nicht kommt. In irgendeiner Form herausragend ist dieser Roman dann auch eigentlich nicht. Warum gerade diese Geschichte einen so durchschlagenden Erfolg hatte, immerhin war sie auch der Fortsetzungsroman in der Wormser Zeitung, ist mir mit zwanzig Jahren Abstand nicht mehr ersichtlich. Ist es das grönländische Setting? Die toughe Frau, die Leute mit Schraubenziehern angreift und dabei unfassbar gut gekleidet ist? Die Trillionen exotischen Wörter für Schnee, die sie kennt? Irgendeinen Nerv muss Høeg mit diesem Roman getroffen haben, den er zumindest bei mir jetzt nicht mehr trifft. Smilla ist, und ich sage das ungern, weil es sie sehr ärgern würde, nicht besonders gut gealtert.


Peter Høeg: Fräulein Smillas Gespür für Schnee. Aus dem Dänischen übersetzt von Monika Wesemann. Carl Hanser 1994, 528 Seiten. Gelesen in der eBook-Ausgabe mit 447 Seiten. Die Originalausgabe ist 1992 unter dem Titel Frøken Smillas fornemmelse for sne erschienen.

Das Zitat stammt von S. 288.

Flickenteppich einer Identität – „153 Formen des Nichtseins“ von Slata Roschal

Ksenia ist vieles: sie ist Deutsche und Russin, Jüdin und Zeugin Jehovas, Mutter und Schriftstellerin. Als Kind ist sie mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, weil ihr Großvater jüdische Wurzeln geltend machen konnte. Ob die wirklich so sind, wie von ihm behauptet, weiß Ksenia nicht. In ihrem Leben spielt es eine viel größere Rolle, dass ihre Eltern Zeugen Jehovas sind und ihre Tochter somit auch. Zweimal die Woche geht es in die Versammlung, am Wochenende in den Missionsdienst. Und da stehen Ksenia und ihre Eltern nicht einfach irgendwo lächelnd mit dem Wachtturm in der Hand rum, sondern machen es richtig, gehen von Tür zu Tür. Die Röcke sind lang, die Regeln sind klar, alles Interesse an Weltlichem verpönt, Geburtstagsfeiern gibt es ebenso wenig wie ein Weihnachtsfest. Früh beginnt in ihr ein Emanzipationswunsch zu reifen. Die Versammlung nervt, die hässlichen Röcke sind ihr peinlich, aber noch größer ist die Angst vor der Behandlung als Abtrünnige, als Aussteigerin aus der Gemeinde. Einer ihrer Onkel hat es gewagt, über ihn spricht man aber nicht mehr und mit ihm erst Recht nicht mehr.

„Kinder, die sich entschieden, die Organisation zu verlassen, meist zur Volljährigkeit, bereiteten ihren Eltern nicht nur peinliche Momente, stellten sie nicht nur als versagende Erzieher bloß, diese Kinder entschieden sich für eine Welt, die von Satan regiert wurde, sie verzichteten auf das ewige Leben.“

Als Erwachsene hat sie es schließlich geschafft, aber die Selbstzweifel werden nicht weniger. In ihrer Beziehung ist sie nicht so richtig glücklich, aber auch bei weitem nicht unglücklich genug, um sie zu beenden. Sie leidet unter dem trotzigen Verhalten ihres Sohnes und fragt sich ständig, ob sie eine bessere Mutter sein könnte. Phasenweise hat sie Energie für gar nichts. Bringt den Sohn in den Kindergarten, sitzt dann stundenlang nur da und starrt an die Wand, bis sie ihn wieder abholen muss. Manchmal aber ist sie produktiv in ihrer Arbeit als Schriftstellerin oder Dolmetscherin, gewinnt sogar einen Preis in ihrer kleinen Heimatstadt.

153 Formen des Nichtseins ist ein nicht immer leicht zu greifender Text, zusammengesetzt aus kurzen Episoden und ganz verschiedenen Textstücken. Das Buch besteht sowohl aus Passagen, die von der Protagonistin erzählt werden, als auch aus Texten aus Kleinanzeigen, Foren und Publikationen der Zeugen Jehovas. Eine chronologische Anordnung gibt es nicht, eher eine assoziative. 153 dieser Texte setzt Roschal zusammen zu einer Collage, die in etwa abbildet, woraus Ksenia besteht, was sie sein könnte. Oder eben nicht sein könnte. Es ist ein komplexes Unterfangen, das ohne abschließende Antwort bleiben muss. Die Frage, woher sie kommt, bringt Ksenia auch als Erwachsene immer noch zum Stottern. Manchmal sagt sie dann, sie sei Jüdin, das ist eindeutig und exotisch. Aber egal, wie verzweifelt die Protagonistin mitunter auch ist, wird der Text nie schwermütig. Ksenia betrachtet sich und ihr Leben fast durchgehend mit einem ironischen Blick und bissigem Humor.

Roschals Debüt ist eigenartig im besten Sinne des Wortes und ein kraftvoller Text, der sich nicht auf traditionelle Erzählformen verlässt. Das muss er auch gar nicht. Die Erzählstimme ist eine sehr eigene und stimmige, die problemlos durch den Text trägt. Obwohl dieser aus lauter Versatzstücken besteht, ergibt sich am Ende ein sehr stimmiges und starkes Bild. Eine Bereicherung für die Literatur und hoffentlich nicht das letzte mal, dass wir von ihr lesen dürfen!


Slata Roschal: 153 Formen des Nichtseins. Homunculus 2022, 171 Seiten.

Das Zitat stammt von S. 51.

Welt im Wandel – „Mahtab“ von Nassir Djafari

Die Zukunft seiner Familie kann nur in Europa liegen, davon ist Amin überzeugt. Zusammen mit seiner Frau Mahtab verlässt er deshalb Iran, um im ordentlichsten aller Länder zu leben: Deutschland. Dort sind die Behörden hilfsbereit und die Straßen sauber, dort lebt der Fortschritt. Und dort leben, Ende der 60er Jahre, auch Amin und Mahtab, mittlerweile Eltern von drei Kindern. Mahtab arbeitet als Krankenschwester und daran, die moderne Frau zu werden, die ihr Mann gerne in ihr sieht. Sie will Autofahren lernen und sich moderner kleiden, doch als ihre Tochter Azadeh plötzlich im Minirock herumläuft und Studentenproteste besucht, wird ihr das alles doch zu viel mit der Modernität.

„Sie wachsen in einem Land auf, in dem Recht und Gesetz gelten, wo die Behörden den Menschen helfen und sich ihnen nicht in den Weg stellen, wo nach einem Autounfall innerhalb von Minuten Polizei und Rettungswagen da sind, wo jede noch so winzige Baustelle mit rotem Band gesichert ist, damit sich niemand den Knöchel bricht. Wäre das nicht wunderbar?“

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Der Sog der Elbe – „Unter Wasser Nacht“ von Kristina Hauff.

„Ihr lebt hier im Paradies!“ Diesen Satz haben Sophie und Thies schon oft gehört, seit sie die besetzten Häuser ihrer Studienzeit hinter sich gelassen haben und einen Resthof nahe Lüneburg gekauft haben. Dort leben sie nun mit Bodo und Inga, ihren besten Freunden, die sich auf dem Grundstück ebenfalls ein Haus gebaut haben. Ganz nah an der Elbe, mit Scheune, großem Garten und Tischtennisplatte. Fehlen nur noch die spielenden Kinder auf der Wiese. Und genau da beginnt das Martyrium von Thies und Sophie. Während Bodo und Inga zwei strahlende, fröhliche, begabte Kinder großziehen, klappt es bei ihnen zunächst gar nicht mit der Schwangerschaft. Und dann kommt Aaron. Aaron wird kein begabter Sänger, kein begnadeter Fußballspieler und auch nicht das beliebteste Kind in der Klasse.

Aaron ist von Anfang an „schwierig“ lässt seine Eltern und auch sonst niemanden an sich heran, wird gewalttätig. Thies, selbst Lehrer, und Sophie sind überfordert und zermürbt von der ständigen Anspannung, von den ewigen Gesprächen mit der Schulleitung. Ihre Beziehung leidet ebenso wie die Freundschaft zu Bodo und Inga, deren Glück die beiden ständig vor der Nase haben. Sie neiden ihnen das Familienglück, auch wenn sie das niemals zugeben würden. Als gerade mal wieder ein Schulverweis droht und Aarons Eltern endgültig mit ihrem Latein am Ende sind, als sie sich eingestehen müssen, dass sie wirklich und gar nicht mehr weiterwissen, kommt Aaron eines Abends nicht nach Hause. Zwei Tage später gibt die Elbe seinen leblosen Körper wieder frei.

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Die Verlorene – „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas

Im März 1847 werden in der Pariser Rue d’Antin die Habseligkeiten einer schwer verschuldeten Dame versteigert. Die ehemalige Besitzerin war keine Unbekannte in der Stadt. Marguerite Gautier war eine glamouröse Gestalt, die gefragteste und schönste Kurtisane von ganz Paris, Dauergast in den Theatern der Stadt, Zierde jeder Runde. Gestorben aber ist sie ganz allein und mit gerade Mitte Zwanzig an einem Lungenleiden. Auch nach ihrem Tod verliert ihr Dasein nichts von seinem vermeintlichen Glamour und die Versteigerung zieht zahlreiche Schaulustige an, darunter auch den Erzähler von Die Kameliendame, der aus einer Laune heraus für einen enormen Preis eine Ausgabe von Manon Lescaut ersteht. Dieser Kauf bringt ihm kurze Zeit später die Bekanntschaft von Armand Duval ein, dem einzigen Mann, der Marguerite nicht nur begehrt und bewundert hat, sondern aufrichtig geliebt.

Armand Duval erzählt ihm die tragische Geschichte einer Liebe, die nicht sein konnte, von zwei Welten, die zu verschieden waren, um zu einer zu werden. Als Armand Marguerite kennenlernt, ist sie schon eine bekannte und etablierte Kurtisane. Wie jeder Mann verliebt er sich Hals über Kopf in sie. Aber als einziger Mann nimmt er Anteil an Marguerite selbst und an ihrer Krankheit. Das überzeugt selbst die kapriziöse Marguerite und sie ist bereit, ihm zuliebe ihr Leben auf den Kopf zu stellen. Sie weiß genau, dass er ihr einen Lebenswandel, wie sie ihn jetzt führt, nicht finanzieren kann. Das kann kein Mann alleine. Das muss bisher aber auch kein Mann alleine. Ohne ein halbes Dutzend Liebhaber, die ihr hoffnungslos verfallen sind, kann Marguerite nicht mehr leben, wie bisher. Allein ihre Miete übersteigt Armands bei weitem nicht bescheidene Möglichkeiten. Und dennoch willigt sie ein, will mit ihrer Vergangenheit abschließen und ein ganz anderes Leben an Armands Seite führen. Schluss mit dem wilden Nachtleben, den Abenden im Theater, den Gesellschaften mitten in der Nacht. Doch Armands etablierte bürgerliche Familie kann eine Prostituierte in der Familie natürlich nicht dulden.

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Leben in sechs Welten – „Nachtbeeren“ von Elina Penner

Nelli Neufeld lebt unsichtbar. Sie ist fromme Mennonitin, Ausgewanderte, Eingewanderte, Plautdietsch-Sprecherin, Nesthäkchen, Oma-Kind, Mutter und Ehefrau, unterwegs in sechs Welten, die kaum Berührungspunkte haben. Ihre Lebensrealität nimmt kaum jemand wahr, sie fällt durch alle Raster, ist nicht deutsch und nicht russisch und auch nicht so richtig deutsch-russisch. An ihre ersten Jahre in der UdSSR hat sie kaum eine Erinnerung, erst die Reise nach Deutschland, die Enge in der Notunterkunft und die Schulzeit als Ausländerkind erinnert sie gut. Sie ist aufgewachsen in einer mennonitischen Familie, die unter sich plautdietsch spricht, eine niederdeutsche Sprache, die fast ausschließlich unter Russlandmennoniten gesprochen wird. Ihre Oma heißt Öma, die Urgroßmutter Öle Öma und das Brot, das es zu allen Anlässen gibt, Tweeback. Russisch und Deutsch kann sie – natürlich – auch.

„Ich war nicht deutsch, nicht russisch, also wurde ich religiös. Da wusste ich, woran ich war.“

Die Taufe in der Glaubensgemeinschaft erfolgt nicht gleich nach der Geburt, sondern erst, wenn ein Mensch selber entscheiden will und kann, im Glauben zu leben. Nelli bekennt sie sich erst nach dem Tod der Öma, bei der emotionalen Beerdigung und in der Hoffnung, dass es für Fromme ein Wiedersehen nach dem Tod gibt. Von da an lässt sie sich die Haare lang wachsen, trägt keine Hosen mehr und nur noch Röcke, die auch im Sitzen die Knie bedecken, entsagt dem Alkohol und verbannt den Fernseher. Die Aufgaben in ihrer Ehe mit Kornelius sind klar verteilt: Er arbeitet, sie bleibt zu Hause, ordnet sich unter, kocht und sorgt für makellose Sauberkeit in dem Haus das so groß sein muss, dass es die Entbehrungen der Notunterkunft vergessen lässt. Sohn Jakob lernt in der Jungschar und auf der christlichen Privatschule, dass er die Eltern ehren muss.

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Zerfallende Erinnerung – „The Wilderness“ von Samantha Harvey

In seiner Blütezeit war Jake ein erfolgreicher Architekt. Er war besessen von der Idee, in seiner alten Heimat Lincolnshire das lichtdurchflutete Haus seiner Träume ins dunkle Moor zu stellen. Inspiriert von einer Voliere im Londoner Zoo sollte es ganz aus Glas sein und aussehen, als käme es mitten aus dem Moor. Mit dem Versprechen eines Kirschbaum-Idylls hinter dem Haus gelingt es ihm, seine Frau Helen auch von der Genialität seines Plans zu überzeugen. Sie verlassen London und ziehen nach Lincolnshire, wo sie zwei Kinder bekommen und ihre Ehe ruinieren.

Viele Jahre später lebt Jake als Witwer, sein Sohn ist im Gefängnis – immerhin einem, das Jake entworfen hat – und einem Gedächtnis, das ihn immer mehr im Stich lässt. Alzheimer, sagt die Frau mit den roten Haaren, die er regelmäßig trifft und deren Namen er sich nicht merken kann. Sie verlangt von ihm, dass er Wortreihen lernt und behält, Uhren malt und Zeitstränge. Seine Misserfolge frustrieren Jake. Dagegen hilft, wie schon seit Jahren, mindestens ein Mint Julep am Tag, die er in Rekordzeit runterstürzen kann. An seiner Seite ist Eleanor, eine Jugendfreundin, die seit Ewigkeiten in ihn verliebt ist und die jetzt endlich mit ihm leben kann, ihn umsorgen und ihm helfen kann. Jetzt, da er jeden Tag ein bisschen mehr verschwindet. Jetzt, da er sich fast jeden Tag wundert, wer die nette Frau ist, die sein Essen kocht, seine Wäsche sortiert und ihn zu der anderen Frau mit den roten Haaren begleitet.

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Das Tagebuch einer Dienstmagd – „The Observations“ von Jane Harris

Bessy ist auf dem Weg von Glasgow nach Edinburgh, als es sie zufällig nach Castle Haivers verschlägt. Zwar gibt es dort nur einen abgelegenen Hof und nicht das erhoffte Schloss zu besichtigen, dennoch ist der Abstecher ein Glücksfall für Bessy. Mit dem Tod ihres Dienstherren Mr. Levy hat sie ihre Anstellung als Hausmädchen in Glasgow verloren und sucht nun verzweifelt eine neue. Das zumindest erzählt sie Hausherrin Arabella Reid. Die merkt zwar recht schnell, dass Bessy nur einen Bruchteil der behaupteten Fähigkeiten tatsächlich beherrscht, dennoch stellt sie das Mädchen ein. Denn Bessy hat in ihrer vorherigen Anstellung Lesen und Schreiben gelernt, eine seltene Fähigkeit für Dienstmädchen und für Arabella Reid eine essentielle. Denn wichtiger als saubere Böden ist ihr, dass ihre Mädchen jeden Abend ein detailliertes Journal über das schreiben, was sie am Tag getan und erlebt haben.

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Grantiges Genie – „Ein Mann der Kunst“ von Kristof Magnusson

Mit politischer Kunst ist KD Pratz in den 1980ern groß, reich und berühmt geworden. So berühmt, dass er es sich jetzt erlauben kann, hinter den dicken Mauern einer alten Burganalage zu leben und mit niemandem mehr zu sprechen. Sein künstlerisches Schaffen in den letzten Jahren ist reine Legende, gesehen hat davon bisher niemand etwas. Das aber schreckt den Förderverein des Frankfurter Wendhals Museums nicht ab. Die Kunstbegeisterten planen einen Neubau, der nur den Werken des großen Künstlers KD Pratz gewidmet sein soll. Pratz soll für Frankfurt das werden, was Beuys für Kassel ist.

Dafür aber muss man Pratz erstmal gewinnen. Zum Erstaunen aller scheint sogar zu gelingen – beim eigenen Neubau werden wohl selbst die größten Einsiedler schwach – und KD Pratz lädt den Förderverein auf seine Burg ein. Sogar sein Atelier will er zeigen, stellt Museumsdirektor Neuhuber in Aussicht. Also geht die Jahresreise des Fördervereines ausnahmsweise mal nicht in eine der internationalen Kunstmetropolen, sondern in einen etwas trostlosen Landgasthof in der Nähe von Rüdesheim. Von dort aus soll ein wenig Altarkunst und moderne Architektur besichtigt werden, vor allem aber die neuen Werke, die bald schon im Wendhals Museum hängen könnten. Besonders Ingeborg ist begeistert von der Aussicht. Seit Jahrzehnten schon ist sie eine glühende Verehrerin von KD Pratz und reist zu jeder Ausstellung, die auch nur einen Schnipsel seines Werks zeigt. Begleitet wird sie bei der Reise von Sohn Constantin, der auch der Ich-Erzähler des Romans ist. Allein aufgrund seines Alters sticht er aus der Gruppe heraus und kommentiert das weitere Geschehen aus einer etwas abseitigen Position. Er schätzt das Engagement des Fördervereins, daran lässt er keinen Zweifel, er sieht aber auch, dass der ganze Haufen doch etwas schrullig ist.

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