Ein düsteres Märchen – „Junge mit schwarzem Hahn“ von Stefanie vor Schulte

Der junge Martin hatte es schwer im Leben. Sein Vater hat die ganze Familie erschlagen, bis auf ihn, der damals noch ganz klein war. Seitdem ist er auf sich allein gestellt. Er besitzt nichts, kein Bett, keinen Topf, meistens nicht einmal genug zu Essen. Einzig einen Hahn hat er, einen schwarzen Hahn, dem die Dorfbewohner dunkle Mächte zusprechen. Doch obwohl ihm in seinem ganzen Leben noch nie jemand geholfen hat, ist er herzensgut. Im Dorf verursacht das Argwohn. Was ist falsch mit diesem Jungen, der scheinbar keinen Hass, keinen Neid und keine Missgunst kennt?

Martin ist aber nicht nur gut, er ist auch sehr schön, so schön, dass er gleich das Interesse eins Malers weckt, der im Dorf das Altarbild erneuern soll. Mit ihm zieht er wenig später los, durch karge Landschaften, in denen ein schrecklicher Krieg tobt. Er lässt Franzi zurück, die einzige Person, die er je geliebt hat, und nimmt nur seinen Hahn mit auf seine große Mission: Er will den unbekannten Reiter finden, der kleine Kinder raubt und mit sich nimmt. Schon von Kindesbeinen kennt Martin die Schauergeschichten von den Männern im schwarzen Mantel, die immer einen Jungen und ein Mädchen entführen. Geglaubt hat er nie daran. Doch seit er selbst Zeuge einer solchen Entführung geworden ist, weiß er, dass er keine Ruhe finden wird, ehe dem Unbekannten nicht das Handwerk gelegt ist.

„Die Aufgabe ist mit dir in die Welt gekommen und jetzt passt sie dir wie angegossen“

Stefanie vor Schulte führt ihren Protagonisten durch eine feindselige, oft bedrohliche Welt. Doch nie schwindet sein Mut, nie verliert er seine Hoffnung. Mit einer zuversichtlichen Offenheit geht er durch ein Leben, dass so viel Optimismus fast nicht verdient. Doch genau das rettet den jungen Helden. Er hadert nicht mit Schicksal und Umständen, sondern lässt sich von diesen Widrigkeiten schlicht nicht beeindrucken. Junge mit schwarzem Hahn ist ein Märchen für Erwachsene, das ohne Pathos und Kitsch eine eigentlich ganz rührende Geschichte erzählt. Vor Schulte gelingt es, ihre Sprache zwischen poetischer Fantasie und grausamer Realität in der Balance zu halten. Dass die Figuren dabei nicht sehr fein charakterisiert werden, die Welt recht simpel in Gut und Böse unterteilt ist, ist dem märchenhaften Aufbau geschuldet und passt sich dem hervorragend an.


tl;dr: Junge mit schwarzem Hahn ist ein ganz und gar nicht modernes, aber recht zeitloses Märchen für Erwachsene, das neben viel Dunkelheit immer auch ein wenig Hoffnung verspricht.


Stefanie vor Schulte: Junge mit schwarzem Hahn. Diogenes 2021, 224 Seiten.

Das Zitat stammt von S. 68 von 146 in der eBook-Fassung.

11 Gedanken zu “Ein düsteres Märchen – „Junge mit schwarzem Hahn“ von Stefanie vor Schulte”

  1. Das steht auch noch auf meiner Wunschliste. Ich stelle mir vor, dass sich das wie eine Mischung aus „Krabat“ und „Das Parfum“ liest.

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    1. Sören, was willst du denn, es gibt einen sprechenden Hahn??!

      Tatsächlich ist die Geschichte eben ein Märchen. Es kommentiert Gesellschaft und Umstände wie Märchen das halt machen und es sortiert all das in Kategorien, wie Märchen das halt machen. Und das sehr solide.

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  2. Also ich fand dieses Buch unfassbar gut! Danke für den Lesetipp. Ich kann mir eigentlich keine bessere Literatur vorstellen. Ich werde Stefanie vor Schultes nächstes Buch definitiv auch lesen. Ich bin zutiefst beeindruckt!

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