Flickenteppich einer Identität – „153 Formen des Nichtseins“ von Slata Roschal

Ksenia ist vieles: sie ist Deutsche und Russin, Jüdin und Zeugin Jehovas, Mutter und Schriftstellerin. Als Kind ist sie mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, weil ihr Großvater jüdische Wurzeln geltend machen konnte. Ob die wirklich so sind, wie von ihm behauptet, weiß Ksenia nicht. In ihrem Leben spielt es eine viel größere Rolle, dass ihre Eltern Zeugen Jehovas sind und ihre Tochter somit auch. Zweimal die Woche geht es in die Versammlung, am Wochenende in den Missionsdienst. Und da stehen Ksenia und ihre Eltern nicht einfach irgendwo lächelnd mit dem Wachtturm in der Hand rum, sondern machen es richtig, gehen von Tür zu Tür. Die Röcke sind lang, die Regeln sind klar, alles Interesse an Weltlichem verpönt, Geburtstagsfeiern gibt es ebenso wenig wie ein Weihnachtsfest. Früh beginnt in ihr ein Emanzipationswunsch zu reifen. Die Versammlung nervt, die hässlichen Röcke sind ihr peinlich, aber noch größer ist die Angst vor der Behandlung als Abtrünnige, als Aussteigerin aus der Gemeinde. Einer ihrer Onkel hat es gewagt, über ihn spricht man aber nicht mehr und mit ihm erst Recht nicht mehr.

„Kinder, die sich entschieden, die Organisation zu verlassen, meist zur Volljährigkeit, bereiteten ihren Eltern nicht nur peinliche Momente, stellten sie nicht nur als versagende Erzieher bloß, diese Kinder entschieden sich für eine Welt, die von Satan regiert wurde, sie verzichteten auf das ewige Leben.“

Als Erwachsene hat sie es schließlich geschafft, aber die Selbstzweifel werden nicht weniger. In ihrer Beziehung ist sie nicht so richtig glücklich, aber auch bei weitem nicht unglücklich genug, um sie zu beenden. Sie leidet unter dem trotzigen Verhalten ihres Sohnes und fragt sich ständig, ob sie eine bessere Mutter sein könnte. Phasenweise hat sie Energie für gar nichts. Bringt den Sohn in den Kindergarten, sitzt dann stundenlang nur da und starrt an die Wand, bis sie ihn wieder abholen muss. Manchmal aber ist sie produktiv in ihrer Arbeit als Schriftstellerin oder Dolmetscherin, gewinnt sogar einen Preis in ihrer kleinen Heimatstadt.

153 Formen des Nichtseins ist ein nicht immer leicht zu greifender Text, zusammengesetzt aus kurzen Episoden und ganz verschiedenen Textstücken. Das Buch besteht sowohl aus Passagen, die von der Protagonistin erzählt werden, als auch aus Texten aus Kleinanzeigen, Foren und Publikationen der Zeugen Jehovas. Eine chronologische Anordnung gibt es nicht, eher eine assoziative. 153 dieser Texte setzt Roschal zusammen zu einer Collage, die in etwa abbildet, woraus Ksenia besteht, was sie sein könnte. Oder eben nicht sein könnte. Es ist ein komplexes Unterfangen, das ohne abschließende Antwort bleiben muss. Die Frage, woher sie kommt, bringt Ksenia auch als Erwachsene immer noch zum Stottern. Manchmal sagt sie dann, sie sei Jüdin, das ist eindeutig und exotisch. Aber egal, wie verzweifelt die Protagonistin mitunter auch ist, wird der Text nie schwermütig. Ksenia betrachtet sich und ihr Leben fast durchgehend mit einem ironischen Blick und bissigem Humor.

Roschals Debüt ist eigenartig im besten Sinne des Wortes und ein kraftvoller Text, der sich nicht auf traditionelle Erzählformen verlässt. Das muss er auch gar nicht. Die Erzählstimme ist eine sehr eigene und stimmige, die problemlos durch den Text trägt. Obwohl dieser aus lauter Versatzstücken besteht, ergibt sich am Ende ein sehr stimmiges und starkes Bild. Eine Bereicherung für die Literatur und hoffentlich nicht das letzte mal, dass wir von ihr lesen dürfen!


Slata Roschal: 153 Formen des Nichtseins. Homunculus 2022, 171 Seiten.

Das Zitat stammt von S. 51.

Welt im Wandel – „Mahtab“ von Nassir Djafari

Die Zukunft seiner Familie kann nur in Europa liegen, davon ist Amin überzeugt. Zusammen mit seiner Frau Mahtab verlässt er deshalb Iran, um im ordentlichsten aller Länder zu leben: Deutschland. Dort sind die Behörden hilfsbereit und die Straßen sauber, dort lebt der Fortschritt. Und dort leben, Ende der 60er Jahre, auch Amin und Mahtab, mittlerweile Eltern von drei Kindern. Mahtab arbeitet als Krankenschwester und daran, die moderne Frau zu werden, die ihr Mann gerne in ihr sieht. Sie will Autofahren lernen und sich moderner kleiden, doch als ihre Tochter Azadeh plötzlich im Minirock herumläuft und Studentenproteste besucht, wird ihr das alles doch zu viel mit der Modernität.

„Sie wachsen in einem Land auf, in dem Recht und Gesetz gelten, wo die Behörden den Menschen helfen und sich ihnen nicht in den Weg stellen, wo nach einem Autounfall innerhalb von Minuten Polizei und Rettungswagen da sind, wo jede noch so winzige Baustelle mit rotem Band gesichert ist, damit sich niemand den Knöchel bricht. Wäre das nicht wunderbar?“

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Der Sog der Elbe – „Unter Wasser Nacht“ von Kristina Hauff.

„Ihr lebt hier im Paradies!“ Diesen Satz haben Sophie und Thies schon oft gehört, seit sie die besetzten Häuser ihrer Studienzeit hinter sich gelassen haben und einen Resthof nahe Lüneburg gekauft haben. Dort leben sie nun mit Bodo und Inga, ihren besten Freunden, die sich auf dem Grundstück ebenfalls ein Haus gebaut haben. Ganz nah an der Elbe, mit Scheune, großem Garten und Tischtennisplatte. Fehlen nur noch die spielenden Kinder auf der Wiese. Und genau da beginnt das Martyrium von Thies und Sophie. Während Bodo und Inga zwei strahlende, fröhliche, begabte Kinder großziehen, klappt es bei ihnen zunächst gar nicht mit der Schwangerschaft. Und dann kommt Aaron. Aaron wird kein begabter Sänger, kein begnadeter Fußballspieler und auch nicht das beliebteste Kind in der Klasse.

Aaron ist von Anfang an „schwierig“ lässt seine Eltern und auch sonst niemanden an sich heran, wird gewalttätig. Thies, selbst Lehrer, und Sophie sind überfordert und zermürbt von der ständigen Anspannung, von den ewigen Gesprächen mit der Schulleitung. Ihre Beziehung leidet ebenso wie die Freundschaft zu Bodo und Inga, deren Glück die beiden ständig vor der Nase haben. Sie neiden ihnen das Familienglück, auch wenn sie das niemals zugeben würden. Als gerade mal wieder ein Schulverweis droht und Aarons Eltern endgültig mit ihrem Latein am Ende sind, als sie sich eingestehen müssen, dass sie wirklich und gar nicht mehr weiterwissen, kommt Aaron eines Abends nicht nach Hause. Zwei Tage später gibt die Elbe seinen leblosen Körper wieder frei.

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Leben in sechs Welten – „Nachtbeeren“ von Elina Penner

Nelli Neufeld lebt unsichtbar. Sie ist fromme Mennonitin, Ausgewanderte, Eingewanderte, Plautdietsch-Sprecherin, Nesthäkchen, Oma-Kind, Mutter und Ehefrau, unterwegs in sechs Welten, die kaum Berührungspunkte haben. Ihre Lebensrealität nimmt kaum jemand wahr, sie fällt durch alle Raster, ist nicht deutsch und nicht russisch und auch nicht so richtig deutsch-russisch. An ihre ersten Jahre in der UdSSR hat sie kaum eine Erinnerung, erst die Reise nach Deutschland, die Enge in der Notunterkunft und die Schulzeit als Ausländerkind erinnert sie gut. Sie ist aufgewachsen in einer mennonitischen Familie, die unter sich plautdietsch spricht, eine niederdeutsche Sprache, die fast ausschließlich unter Russlandmennoniten gesprochen wird. Ihre Oma heißt Öma, die Urgroßmutter Öle Öma und das Brot, das es zu allen Anlässen gibt, Tweeback. Russisch und Deutsch kann sie – natürlich – auch.

„Ich war nicht deutsch, nicht russisch, also wurde ich religiös. Da wusste ich, woran ich war.“

Die Taufe in der Glaubensgemeinschaft erfolgt nicht gleich nach der Geburt, sondern erst, wenn ein Mensch selber entscheiden will und kann, im Glauben zu leben. Nelli bekennt sie sich erst nach dem Tod der Öma, bei der emotionalen Beerdigung und in der Hoffnung, dass es für Fromme ein Wiedersehen nach dem Tod gibt. Von da an lässt sie sich die Haare lang wachsen, trägt keine Hosen mehr und nur noch Röcke, die auch im Sitzen die Knie bedecken, entsagt dem Alkohol und verbannt den Fernseher. Die Aufgaben in ihrer Ehe mit Kornelius sind klar verteilt: Er arbeitet, sie bleibt zu Hause, ordnet sich unter, kocht und sorgt für makellose Sauberkeit in dem Haus das so groß sein muss, dass es die Entbehrungen der Notunterkunft vergessen lässt. Sohn Jakob lernt in der Jungschar und auf der christlichen Privatschule, dass er die Eltern ehren muss.

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Zerfallende Erinnerung – „The Wilderness“ von Samantha Harvey

In seiner Blütezeit war Jake ein erfolgreicher Architekt. Er war besessen von der Idee, in seiner alten Heimat Lincolnshire das lichtdurchflutete Haus seiner Träume ins dunkle Moor zu stellen. Inspiriert von einer Voliere im Londoner Zoo sollte es ganz aus Glas sein und aussehen, als käme es mitten aus dem Moor. Mit dem Versprechen eines Kirschbaum-Idylls hinter dem Haus gelingt es ihm, seine Frau Helen auch von der Genialität seines Plans zu überzeugen. Sie verlassen London und ziehen nach Lincolnshire, wo sie zwei Kinder bekommen und ihre Ehe ruinieren.

Viele Jahre später lebt Jake als Witwer, sein Sohn ist im Gefängnis – immerhin einem, das Jake entworfen hat – und einem Gedächtnis, das ihn immer mehr im Stich lässt. Alzheimer, sagt die Frau mit den roten Haaren, die er regelmäßig trifft und deren Namen er sich nicht merken kann. Sie verlangt von ihm, dass er Wortreihen lernt und behält, Uhren malt und Zeitstränge. Seine Misserfolge frustrieren Jake. Dagegen hilft, wie schon seit Jahren, mindestens ein Mint Julep am Tag, die er in Rekordzeit runterstürzen kann. An seiner Seite ist Eleanor, eine Jugendfreundin, die seit Ewigkeiten in ihn verliebt ist und die jetzt endlich mit ihm leben kann, ihn umsorgen und ihm helfen kann. Jetzt, da er jeden Tag ein bisschen mehr verschwindet. Jetzt, da er sich fast jeden Tag wundert, wer die nette Frau ist, die sein Essen kocht, seine Wäsche sortiert und ihn zu der anderen Frau mit den roten Haaren begleitet.

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Freunde und Verrat – „Der Sohn des Akkordeonspielers“ von Bernardo Atxaga

David und Joseba wachsen gemeinsam in einem kleinen Dorf im Baskenland nahe Gernika auf. Jahre später kämpfen sie unter den Namen Ramuntxo und Etxeberria im Untergrund für ein unabhängiges Baskenland. Erst Jahrzehnte später und auf einem anderen Kontinent können sie sich wieder als David und Joseba in die Augen sehen.

Obaba ist ein kleines Dorf im Baskenland. Man kennt sich, aber vertraut sich nicht. David, der Sohn des Akkordeonspielers, wächst dort auf im politisch angespannten Klima der 1960er und 70er Jahre. Sein Vater Ángel ist als begabter Musiker geschätzt, als Vater aber jähzornig und aufbrausend. David verbringt so wenig Zeit wie möglich mit ihm und lebt stattdessen fast komplett auf dem Pferdehof seines Onkels. Schon als Jugendlicher lernt er, dass man außer seien engsten Freunden besser niemandem vertraut. Man weiß nie, wer auf welcher Seite steht und wer sie wie schnell zu wechseln bereit ist.

„Was ist von jemandem zu erwarten, der eine solche Vorgeschichte hat, der in einem politischen Umfeld aufwächst, in dem das Baskische selbst auf Grabsteinen verboten war?“

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Von Seiten der Mutter – „Die Chamäleondamen“ von Yvonne Hergane

Über vier Generationen spannt sich die Geschichte der anpassungsfähigen Chamäleondamen: Edith, Marita, Ellie und Hanne. Es beginnt mit Edith, die 1919 in ihrer Hochzeitsnacht aus dem Fenster klettert und zu dem Mann flieht, den sie eigentlich liebt. Damit setzt sie den Grundstein für eine Reihe von Frauen, die ihren eigenen Kopf haben und es verstehen, ihren Willen durchzusetzen. Die Familie lebt und bleibt vorerst im rumänischen Retschitza im Banat, als Teil der dort lebenden deutschstämmigen Bevölkerungsgruppe. Erst in den 1980ern wird sich das ändern, als Ellies Mann über die Donau flieht und es nach Deutschland schafft, wohin Frau und Tochter Hanne ihm schließlich folgen können. Und dort findet die Geschichte auch ihr Ende, mit Hanne, die in Hamburg ihren Sohn großzieht. Erst mit Luis wird die Reihe der Töchter in der Familie unterbrochen.

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Zornige Jugend – „Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron“ von Yade Yasemin Önder

Ein Jahr und einen Tag nach der Katastrophe von Tschernobyl wird die Erzählerin dieses Romans in einer unbedeutenden Stadt in Westdeutschland geboren. Ihren Eintritt in die Welt verortet sie gleich zum Einstieg mit Hilfe einer Katastrophe und nicht weniger katastrophal geht die Geschichte weiter.

Als sie gerade acht Jahre alt ist, stirbt ihr Vater. Sie erinnert ihn als einen wahren Koloss von fast vierhundert Kilo, an dessen Tod sie glaubt, Schuld zu tragen. Immerhin habe er sich, so erzählt sie, an einer Kreissäge tödlich verletzt, als er der Tochter eine Schaukel bauen wollte. Ob das so stimmt – man weiß es nicht. Önders Erzählerin ist ausgesprochen unzuverlässig und oft genug weiß man nicht, ob das Erzählte der kindlichen Erinnerung entspringt, reine Phantasie ist oder als reine Metapher gelesen werden muss: ein Haus, das mitten auf einer Wiese steht mit einem Boden aus Gras, Hannelore Kohl und ihr dicker Mann als joviale Nachbarn, eine Hochzeitsnacht unterm Esstisch. Önders Roman besteht aus Sequenzen, die mal verzweifelt und mal zornig sind, und in die man sich immer wieder einfinden muss. Erzählt wird vor allem aus Kindheit und Jugend der Erzählerin die nun wirklich nicht leicht war, soviel kann man sich aus den Splittern zusammensetzen.

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Der Blick ins Innere – „Sight“ von Jessie Greengrass

Wie können wir wissen, wie es in uns aussieht? Diese Frage beschäftigt nicht nur die Erzählerin diese kurzen Romans, sondern auch Generationen von Wissenschaftlern und Gelehrten. Mit Strahlen, Autopsien und Psychoanalysen versucht der Mensch seit Ewigkeiten zu verstehen, was in ihm vorgeht, physisch wie psychisch.

Die Erzählerin nimmt ihre zweite Schwangerschaft als Ausgangspunkt, um über all das nachzusinnen. Sight bewegt sich dabei irgendwo zwischen Roman und Essay und wird nur lose zusammengehalten von der Rahmenhandlung einer Schwangerschaft. Innerhalb dieser bewegt die Erzählerin sich zwischen verschiedenen Zeitebenen, zwischen Erlebtem und Gelesenem.

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Selbstbestimmung auf vier Rädern – „Ungebremst durch Kermānschāh“ von Maryam Djahani

Taxifahren ist für Shohre viel mehr als nur ein Job. Seit sie ein junges Mädchen war, war es ihr Traum, den ganzen Tag mit ihrem eigenen Auto durch ihre Heimatstadt Kermānschāh zu fahren, Menschen, ihr Gepäck und ihre Geschichten von einem Ort zum anderen zu bringen. Trotz der Unterstützung durch ihren Vater wäre der Traum fast gescheitert.

Jung hat Shohre Hamed geheiratet, der von ihrer Idee nicht sehr begeistert war. Hamed hatte sich eine moderne Frau gewünscht, aber schnell muss Shohre feststellen, dass er mit „modern“ vor allem die Kleidung und andere Äußerlichkeiten meint. Auf eine Frau, die jeden Tag ihr eigenes Geld verdient, noch dazu in einem Taxi, hat er keine Lust. Deshalb lebt Shohre jetzt geschieden zusammen mit ihrer ebenfalls geschiedenen Cousine Mahbube in einer etwas heruntergekommen Wohnung, die Mahbube so gut wie nie verlässt. Stattdessen verkriecht sie sich in ihrem Zimmer, malt und raucht. Ihre Scheidung verkraftet sie deutlich schlechter als Shohre, vor allem da sie ihre Tochter nicht mehr sehen darf, die in der Ehe geboren wurde.

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