Ein seltener Fund – „The Mermaid and Mrs. Hancock“ von Imogen Hermes Gowar

Es ist ein ungeheurer Fund, den Kapitän Jones seinem Arbeitgeber Jonah Hancock präsentiert. Eine echte Meerjungfrau hat er von seiner letzten Reise mitgebracht! Leider war die so teuer, dass er dafür das Schiff versetzen musste, eines der besten in Hancocks Flotte. Jones ist sich allerdings sicher, dass eine echte Meerjungfrau besser ist als jedes Schiff der Welt. Doch die Kreatur, die er mit großem Gewese auspackt, ist nicht, was Hancock sich erwartet hätte. Statt einer betörenden Sirene liegt vor ihm auf dem Tisch eine groteske Kreatur, die aussieht, als hätte jemand einen Affen und einen Fisch zusammengenäht. Aber was soll er nun noch tun? Das Schiff ist nun mal weg und so entschließt er sich, mit der Meerjungfrau zumindest ein wenig Geld zu verdienen.

Zusammengebastelte „Meerjungfrauen“, die Reisende von exotischen Orten mitbrachten, waren eine Zeitlang der letzte Schrei und durften in keinem gutsortierten Kuriositätenkabinett fehlen. Das in diesem Video gezeigte Exemplar wurde auf einer Japanreise erworben und landete unter dem Namen „Fiji Mermaid“ in der berühmten Sammlung von P. T. Barnum.

Jonah Hancock ist ein gesetzter Mann. Nach dem frühen Tod seiner Frau leben nur noch seine Nicht Sukie und eine Angestellte mit ihm im Haushalt. Er betreibt Handel mit Übersee und vermietet einige bescheidene Quartiere – gerade genug für ein bequemes Leben ohne großen Trubel. Das ändert sich schlagartig, als er seine Meerjungfrau in einem Londoner Kaffeehaus ausstellt und die halbseidene Mrs. Chappell darauf aufmerksam wird. Sie ist Zuhälterin für die ganz noble Gesellschaft und immer auf der Suche nach einer Attraktion für ihre betuchte Kundschaft. Über sie lernt Hancock die Highclass-Kurtisane Angelica kennen und verliebt sich Hals über Kopf in sie. Und sie verspricht ihm sogar ihre Liebe. Unter einer kleinen Bedingung: Sie will ihre eigene Meerjungfrau haben. Ein unmögliches Unterfangen, das ist Hancock und auch Angelica klar. Dennoch startet Hancock einen neuen Versuch.

„For mermaids are the most unnatural of creatures and their hearts are empty of love.“

Gowar siedelt ihren Roman im London der 1780er-Jahre an, vor allem in der glamourösen Welt der vergnügungssüchtigen Oberschicht. Der ruhige und beschiedene Haushalt des Mr. Hancock steht dazu im deutlichen Kontrast. Es gelingt ihr, die Atmosphäre einzufangen und zu transportieren, die zwischen Elend und grotesker Überzeichnung pendelt. Mrs. Chappell beispielsweise ist so stereotyp böse und von sich selbst eingenommen, dass sie beinahe eine Karikatur wird. Das allerdings schadet dem Roman nicht, sondern bringt im Gegenteil eine ganz unterhaltsame Komponente mit sich. Die hat die Geschichte auch nötig, denn sie zieht sich ganz schön hin. Der Start ist fulminant, immerhin gibt es eine Meerjungfrau und dann auch noch Einblicke in die verdorbene Gesellschaft Londons. Aber ebenso schnell verliert der Roman auch wieder an Tempo. Hancock verkauft seine erste Meerjungfrau für ein horrende Summe, investiert hier und da und himmelt ansonsten Angelica an, die aber leider nur Augen für George hat, der sich zu sät als gänzlich unpassende Partie erweist.

Hin und wieder streut die Autorin gesellschaftskritische Kommentare ein, beispielsweise über die Situation der Mädchen unter Mrs. Chappells „Obhut“, die von den horrenden Summen, die Mrs. Chappell mit ihnen verdient, nicht einmal ein Taschengeld sehen. Im Großen und Ganzen aber überwiegt in der Darstellung der unkritische Glam-Faktor des verruchten Gewerbes. Gowars Zeitporträt ist detailliert und treffend, das alleine kann den Roman aber nicht retten. Der Titel verspricht mehr Meerjungfrau als das Buch enthält, und Mr. Hancock ist auf der Suche nach ihr noch nicht einmal aktiv beteiligt. Die angeteaserte surreale Komponente kommt am Ende tatsächlich noch in Form einer weiteren Meerjungfrau, da ist der Roman aber schon in seiner eigenen Behäbigkeit versunken. So überzeugend und gelungen Gowars Stil sein mag, die Geschichte trägt sich nicht und mäandert zu lange vor sich hin. Das ist, insbesondere nach dem vielversprechenden Start, wirklich schade.


tl;dr: Der Hype um eine skurrile Meerjungfrau ist ein guter Ausgangspunkt für diesen historischen Roman, der allerdings rapide an Fahrt verliert und sich erst gegen Ende wieder halbherzig aufraffen kann. Sehr bedauerlich, sind doch Stil und Setting sehr vielversprechend.


Imogen Hermes Gowar: The Mermaid and Mrs. Hancock. Penguin UK 2018. 488 Seiten. Eine deutsche Übersetzung von Angela Koonen ist unter dem Titel Die letzte Reise der Meerjungfrau oder wie Jonah Hancock über Nacht zum reichen Mann wurde bei Bastei Lübbe erschienen.

Das Zitat stammt von S. 75.

2018 war dieser Roman auf der Shortlist des Women’s Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des gleichnamigen Leseprojekts.

6 Gedanken zu “Ein seltener Fund – „The Mermaid and Mrs. Hancock“ von Imogen Hermes Gowar

  1. Christoph 28. Dezember 2021 / 16:38

    Die „Fiji-Meerjungfrau“ hatte damals auch einen Auftritt in einer der besten Episoden von „Akte X“.

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    • schiefgelesen 28. Dezember 2021 / 20:58

      Das konnte ich nie sehen, weil es mir zu gruselig war…. Und ich finde diese Meerjungfrau an sich schon nicht gerade sympathisch.

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      • Christoph 29. Dezember 2021 / 15:48

        Das kann ich gut verstehen — ich habe mich früher bei „Akte X“ auch oft sehr gegruselt. Vor einer Weile habe ich mal wieder ein paar alte Episoden angeschaut und dabei ist mir aufgefallen, dass auf eine Superfolge mindestens vier richtig schwache Episoden kommen. Insofern ist die Serie vielleicht doch etwas überbewertet…

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  2. Alexander Carmele 28. Dezember 2021 / 20:45

    Mir stellt sich die Frage, wie die Meerjungfrau symbolisch fungiert – ist sie eine Sirene, ist sie das Außen, die Natur, die Weite, das Rätsel, aber wo ist das Rätsel bei der Zuhälterei. Alles sehr verwirrend. Die Meerjungfrau hat ohnehin einen schwierigen Stand im Sagenland: Wo sind eigentlich die Ursprünge dieser Figur (außer im Seemannsgarn) … ich habe mir darüber noch nie Gedanken gemacht. Vielleicht lohnt es sich, diesen Roman unter einen hyper-symbolistischen Mantel zu legen. Viele Grüße.

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    • schiefgelesen 28. Dezember 2021 / 20:57

      Ich fürchte fast, die Mühe kann man sich bei diesem Roman sparen 🙂
      Es gibt, ich verrate jetzt, wie die Geschichte ausgeht, am Ende wirklich eine zweite Meerjungfrau. Die ist dann aber wieder so mystisch, dass sie gar keine greifbare Kreatur ist, sondern eher eine Art konzentriertes Bewusstsein im Wasser. Und diese Meerjungfrau hat dann auch Einfluss auf Menschen, vor allem, indem sie sie sehr traurig macht.
      Das jetzt vielleicht aber schon ausgefeilter, als es tatsächlich ist. Eigentlich ist die Meerjungfrau eher ein Aufhänger für einen historischen Roman, in dem es vor allem um ganz anderes geht.

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      • Alexander Carmele 28. Dezember 2021 / 21:02

        Okay, dann vielleicht nicht, aber gibt es denn einen Roman, der diese Meerjungfrauen-Sache weniger nur als Aufhänger, sondern als Mythos nutzt. Mir ist nichts bekannt. Es gibt so viele Mythen, die einfach so herumgeistern, quasi als Untote der Popkultur, die nicht mal ein Gründungsereignis besitzen (wie Frankenstein). Höchstwahrscheinlich irre ich mich aber. Deine Analyse hat mir aber sehr gefallen (ein „das Bewusstsein mit Trauer flutender Essenz“ nicht schlecht). Wenn ich mich recht erinnere, gab es in Judith Hermanns Roman eine Stelle. Ich schlag mal nach.

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