Zerfallende Erinnerung – „The Wilderness“ von Samantha Harvey

In seiner Blütezeit war Jake ein erfolgreicher Architekt. Er war besessen von der Idee, in seiner alten Heimat Lincolnshire das lichtdurchflutete Haus seiner Träume ins dunkle Moor zu stellen. Inspiriert von einer Voliere im Londoner Zoo sollte es ganz aus Glas sein und aussehen, als käme es mitten aus dem Moor. Mit dem Versprechen eines Kirschbaum-Idylls hinter dem Haus gelingt es ihm, seine Frau Helen auch von der Genialität seines Plans zu überzeugen. Sie verlassen London und ziehen nach Lincolnshire, wo sie zwei Kinder bekommen und ihre Ehe ruinieren.

Viele Jahre später lebt Jake als Witwer, sein Sohn ist im Gefängnis – immerhin einem, das Jake entworfen hat – und einem Gedächtnis, das ihn immer mehr im Stich lässt. Alzheimer, sagt die Frau mit den roten Haaren, die er regelmäßig trifft und deren Namen er sich nicht merken kann. Sie verlangt von ihm, dass er Wortreihen lernt und behält, Uhren malt und Zeitstränge. Seine Misserfolge frustrieren Jake. Dagegen hilft, wie schon seit Jahren, mindestens ein Mint Julep am Tag, die er in Rekordzeit runterstürzen kann. An seiner Seite ist Eleanor, eine Jugendfreundin, die seit Ewigkeiten in ihn verliebt ist und die jetzt endlich mit ihm leben kann, ihn umsorgen und ihm helfen kann. Jetzt, da er jeden Tag ein bisschen mehr verschwindet. Jetzt, da er sich fast jeden Tag wundert, wer die nette Frau ist, die sein Essen kocht, seine Wäsche sortiert und ihn zu der anderen Frau mit den roten Haaren begleitet.

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Das Tagebuch einer Dienstmagd – „The Observations“ von Jane Harris

Bessy ist auf dem Weg von Glasgow nach Edinburgh, als es sie zufällig nach Castle Haivers verschlägt. Zwar gibt es dort nur einen abgelegenen Hof und nicht das erhoffte Schloss zu besichtigen, dennoch ist der Abstecher ein Glücksfall für Bessy. Mit dem Tod ihres Dienstherren Mr. Levy hat sie ihre Anstellung als Hausmädchen in Glasgow verloren und sucht nun verzweifelt eine neue. Das zumindest erzählt sie Hausherrin Arabella Reid. Die merkt zwar recht schnell, dass Bessy nur einen Bruchteil der behaupteten Fähigkeiten tatsächlich beherrscht, dennoch stellt sie das Mädchen ein. Denn Bessy hat in ihrer vorherigen Anstellung Lesen und Schreiben gelernt, eine seltene Fähigkeit für Dienstmädchen und für Arabella Reid eine essentielle. Denn wichtiger als saubere Böden ist ihr, dass ihre Mädchen jeden Abend ein detailliertes Journal über das schreiben, was sie am Tag getan und erlebt haben.

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Gezeichnete Erinnerung – „Painter of Silence“ von Georgina Harding

In der rumänischen Stadt Iași, die in den 1950ern ein ausgesprochen tristes Bild abgibt, kommt eines Tages ein Mann an, dem man ansieht, dass die letzten Jahre hart für ihn waren. Er schleppt sich bis vor die Tür des Krankenhauses und bricht dort zusammen. Papiere hat er nicht dabei, er weigert sich, zu sprechen und augenscheinlich kann er weder lesen noch schreiben. Eine Krankenschwester beschließt, ihn Ioan zu nennen, nach ihrem Sohn, der nie aus dem Krieg zurückgekehrt ist. Als ihre Kollegin Safta von dem geheimnisvollen Patienten hört, ahnt sie gleich, dass es Augustin ist und dass er hier ist, weil er nach ihr gesucht hat.

Ihr Verdacht bestätigt sich. Als Kinder haben Safta und Augustin viel Zeit miteinander verbracht. Augustins Mutter war die Köchin von Saftas Familie und als Kinder haben die Gleichaltrigen oft miteinander gespielt und wurden eine Zeit auch gemeinsam unterrichtet, bis man beschloss, dass es sinnlos ist, Augustin etwas beibringen zu wollen. Er ist seit seiner Geburt gehörlos und die Lehrkräfte finden keinen Weg, mit ihm zu kommunizieren. Die unbeholfenen Versuche, ihm dooch noch das Sprechen beizubringen, scheitern allesamt. Schließlich findet er selbst einen Weg, sich der Welt mitzuteilen, indem er zeichnet. Mit einfachsten Mitteln und selbstgemischten Farben zeichnet er seine Umwelt und erzählt über seine Bilder das, was er in Worten nicht äußern kann. Safta hofft, dass sie ihn auch jetzt wieder über diesen Weg erreichen kann. Sie bringt ihm Papier und Stifte, doch zunächst rührt Augustin nichts davon an. Sie versucht, Augustins Mutter oder überhaupt jemanden in der alten Heimat Poiana zu erreichen, aber keiner ihrer Briefe wird beantwortet.

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Women’s Prize for Fiction für Ruth Ozeki

Ruth Ozeki wurde am 15.06.2022 für ihren vierten Roman The Book of Form and Emptiness mit dem Women’s Prize for Fiction ausgezeichnet. Der Roman erzählt die Geschichte von Benny, der nach dem Tod seines Vaters beginnt, die Stimme von Dingen zu hören. Überfordert von der Stimmenvielfalt zu Hause findet er einen Rückzugsort in der örtlichen Bücherei, wo er einigen interessanten Charakteren begegnet.

Ozeki berichtet, dass sie sich in ihrer Kindheit oft vorgestellt habe, wie es wäre, wenn die Ding um sie herum ein Bewusstsein hätten und dass sie sich bis heute manchmal fragt, welche Geschichten sie wohl zu erzählen hätten, wenn sie denn könnten.

Die Jury ist begeistert von Ozekis Fähigkeit, so unterschiedliche Themen wie Tod und Verlust, Neurodiversität, Klimawandel und Jazz zu einem stimmigen Roman zu verknüpfen, der dann auch noch voller Humor ist.

Der Roman erscheint im September unter dem Titel Die leise Last der Dinge bei Eisele.

Im Beitrag zur im März erschienen Longlist sind alle nominierten Titel zu finden.

Annäherung im Outback – „The Idea of Perfection“ von Kate Grenville

Weniger als 1.500 Einwohhner hat Karakarook in New South Wales und doch ist es wichtig genug um gleich zwei Menschen aus Sydney in die Kleinstadt zu bringen: Der unter Höhenangst leidende Ingenieur Douglas Cheeseman soll den Abriss und Neubau einer historischen Holzbrücke leiten, Harley Savage soll mit der Einrichtung eines Heimatmuseums helfen. Beide haben nicht nur ihre Arbeit mit in die Kleinstadt gebracht, sondern auch ihre Vergangenheit. Unter den aufmerksamen Augen der Kleinstadtbevölkerung nähern sich beide an, ohne es zu wollen.

Harley hatte eigentlich vor, niemanden mehr in ihr Leben zu lassen, seit der letzte ihrer drei Ehemänner sich umgebracht hat und dass auf so brutale Weise, dass sie glaubt, es läge an ihr und in ihr. Doch als sie kaum zehn Minuten in der Stadt ist, drängt sich schon das erste Lebewesen in Form einer herrenlosen Hündin in ihr Leben. Sie hat überhaupt keine Lust, sich um sie zu kümmern, kauft aber nur dieses eine Mal eine Dose Hundefutter. Und von da an jeden Tag, immer ein letztes Mal. Den Rest ihrer Tage verbringt sie damit, den Leuten zu erklären, was wirklich interessante Ausstellungsstücke für das Karakarook Pioneer Heritage Museum sind und arbeitet an einem Quilt, den niemand versteht, weil er zu „zeitgenössisch“ ist.

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Essen aus Büchern: Chettinad Curry aus Meena Kandasamys „When I hit you“

Essen kann, wenn man es nicht nur essen, sondern auch kochen muss, eine nervtötende, zermürbende Angelegenheit sein. Das gilt vor allem dann, wenn man kein besonders großes Interesse am Kochen hat und eigentlich lieber andere Dinge im Leben tun würde, statt jeden verdammten Tag am Herd zu stehen. So geht es der Erzählerin in Meena Kandasamys When I Hit You. Sie heiratet noch recht jung und folgt ihrem Ehemann in eine Stadt fern ihrer Heimat, in der sie niemanden kennt. In ihrem neuen Leben erwartet ihr Ehemann, den sie vorher als liebevoll und interessant kennengelernt hat, dass sie ihm ergeben dient. Selbstverständlich darf sie nicht arbeiten gehen, bald schon darf sie auch keine Kontakte außerhalb ihrer Familie mehr haben. Müßiggang sieht ihr Mann nicht gern – wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, erwartet er ein sauberes Heim und eine warme Mahlzeit. Wenn er das nicht bekommt, sind die Strafen drakonisch. Wenn er es bekommt, auch. Schon sehr früh in ihrer Ehe fühlt die Frau sich wie eine Schauspielerin, stets darauf bedacht, eine perfekte Ehefrau in einem sonnendurchfluteten Heim darzustellen.

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Women’s Prize for Fiction – die Shortlist 2022

Sechs Wochen ist es her, dass die Longlist des Women’s Prize for Fiction veröffentlicht wurde. Inzwischen hat sich die Zahl derer, die auf den Titel hoffen dürfen, auf sechs reduziert. Im ursprünglichen Post habe ich nochmal die deutschen Übersetzungen aktualisiert, viel getan hat sich aber nicht. Immerhin vier von sechs Titeln der Shortlist sind in Übersetzung erschienen oder angekündigt und ich wäre doch überrascht, wenn nicht noch jemand Erdrich einkauft.

Das aber ist reine Spekulation, hier kommen jetzt die harten Fakten – die sechs nominierten Autorinnen auf der Shortlist des diesjährigen Women’s Prize for Fiction:

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Der Blick ins Innere – „Sight“ von Jessie Greengrass

Wie können wir wissen, wie es in uns aussieht? Diese Frage beschäftigt nicht nur die Erzählerin diese kurzen Romans, sondern auch Generationen von Wissenschaftlern und Gelehrten. Mit Strahlen, Autopsien und Psychoanalysen versucht der Mensch seit Ewigkeiten zu verstehen, was in ihm vorgeht, physisch wie psychisch.

Die Erzählerin nimmt ihre zweite Schwangerschaft als Ausgangspunkt, um über all das nachzusinnen. Sight bewegt sich dabei irgendwo zwischen Roman und Essay und wird nur lose zusammengehalten von der Rahmenhandlung einer Schwangerschaft. Innerhalb dieser bewegt die Erzählerin sich zwischen verschiedenen Zeitebenen, zwischen Erlebtem und Gelesenem.

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Women’s Prize for Fiction – Die Longlist 2022

Wie immer am 08. März wurden auch gestern die Bücher bekanntgegeben, die es beim diesjährigen Women’s Prize for Fiction auf die Longlist geschafft haben. Sechzehn sehr verschiedene Bücher, über Freundschaft, Liebe, Krieg und Dystopien, die seit dem letzten Frühjahr in Großbritannien erschienen sind, sind in dieser Auswahl zu finden. Einige eigentlich erwartbare Namen fehlen in diesem Jahr, dafür sind auch einige ganz neue Stimmen dabei. Diese Autorinnen dürfen sich Hoffnung auf den Titel machen:

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Die Strafe der ewigen Verbannung – „Circe“ von Madeline Miller

Circe, Tochter des Sonnengottes Helios, hat in der Mythologie nicht den besten Ruf. Mit magischen Kräften ausgerüstet sitzt sie auf ihrer Insel, lockt nichtsahnende Männer und verwandelt dann alle, die nicht nach ihrer Pfeife tanzen, in Schweine oder Schlimmeres. Prominentestes Beispiel sind sicher die Männer des Odysseus, die sie erst in ihren Schweinekoben gesteckt und dann nebst ihrem prominenten Kapitän unnötig lang auf der Insel festgehalten haben soll. Nachdem nun wohl Gras über diese Sache gewachsen ist, lässt Miller Circe jetzt selbst zu Wort kommen und erzählen, wie das aus ihrer Sicht alles war.

Und das klingt alles ganz anders: Von frühster Kindheit fühlt Circe sich in ihrer Familie und am Hof ihres Vaters ausgesondert. Sie gilt als sonderbar, ihre Geschwister verlachen sie wegen ihrer krächzenden Stimme, die Götter nehmen sie nicht ernst und ihre erste große Liebe Glaucos will lieber die schöne Nymphe Scylla heiraten. Doch Circe hat ein schlummerndes Talent, das sie selbst erst spät entdeckt. Sie ist eine Hexe und kann mit Hilfe von Kräutern und Essenzen zaubern. Sie verwandelt Menschen in Unsterbliche, Männer in Schweine, Fische in Schafe – ein Wort der Circe genügt und die Welt steht Kopf. Damit kommt sie sogar gegen die Götter an, selbst wenn sie nicht mit ihnen auf einer Stufe steht. Nach einem magischen Fehltritt und einer ordentlichen Ansage von Zeus bleibt Helios keine Wahl, als seine Tochter auf die Insel Aiaia ins Exil zu verbannen, von wo aus sie später ihren wenig rühmlichen Einzug in die Odyssee nehmen wird.

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