Virginia Woolf: Orlando

„she was man; she was woman; she knew the secrets, shared the weaknesses of each.“

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Orlando wird als Sohn eines reichen englischen Adeligen geboren, als noch Elizabeth I regiert. Er ist ein außergewöhnlich schöner, eleganter und talentierter Junge und weckt so das Interesse der Königin. Sie ruft ihn an den Hof, verleiht ihm Titel und Ämter und liebt ihn, doch als er ein junges Mädchen küsst, ist es vorbei mit der guten Beziehung.

Im Winter des Großen Frosts lebt er wieder am Hof, nun unter James I, und lernt dort Sasha kennen, eine junge Russin, von der er sofort verzaubert ist und mit der in Russland leben will. Doch sie bricht sein Herz. Noch dazu macht sich ein anerkannter und von ihm bewunderter Dichter über seine Lyrik lustig und als ihm eine gänzlich unattraktive Erzherzogin nachstellt, reicht es ihm endgültig und er lässt sich, mittlerweile von Charles II, als Botschafter in die Türkei senden.

Dort kommt es zu einem Aufstand, den Orlando auf wundersame Weise überlebt. Sieben Tage liegt er nämlich in seinem Bett und schläft. Die mordende Meute glaubt, er sei schon tot und lässt ihn in Ruhe und als er nach sieben Tagen erwacht, ist er eine Frau. Das beunruhigt Orlando nicht, sie steckt ihre legendär schönen Beine in weite Hosen und schließt sich einer herumziehenden Truppe an, mit der sie durch die Berge wandert. Erst als sie nach England zurückkehren muss, in eine Corsage gezwängt und durch weite Röcke behindert, wird ihr der Wandel vollends bewusst. An Bord des Schiffes, mit dem sie die Überfahrt unternimmt, tötet sie fast einen Matrosen, der, vom Anblick ihres entblösten Knöchels überwältigt, beinahe vom Mast stürzt. Orlando ist erschüttert und von da an auf Sittsamkeit bedacht. Zumindest fürs erste.

Ihr mögt es an der Vielzahl der Regenten schon gemerkt haben – Orlandos Leben ist ein recht langes. Es ist ein langer Weg durch so viele Jahrhunderte, durch zwei Geschlechter und durch unzählige gesellschaftliche Rollen, die damit verknüpft sind und denen Orlando sich mehr oder weniger unterwirft. Geboren im 16. Jahrhundert muss Orlando später noch lernen Auto zu fahren, ihre Biographie endet erst 1928. Das allein reicht schon, um dem ganzen einen märchenhaften Charakter zu verleihen. Orlando fühlt sich immer sehr der Natur verbunden, dem Park, der das Schloss umgibt, den Mooren und den Tieren, oft mehr als den Menschen. In gleich welcher Rolle hat Orlando es nie leicht, ein „richtiger“ Teil der Gesellschaft zu werden. Zu deutlich ist immer die Andersartigkeit, die Fremdheit, die Besonderheit zu spüren.

In diese märchenhafte Biographie klinkt sich immer wieder die Stimme der Biographin ein, die kommentiert, rafft und erläutert, oft bissig und kritisch, immer mit feinem Humor. Die Länge von Orlandos Lebensspanne erlaubt eine Reihe von Epochenporträts, bei der immer das Verhältnis der Geschlechter eine Rolle spielt aber auch die jeweilige Literatur bzw. ihre Schaffenden. Orlando selbst hegt schriftstellerische Ambitionen und hängt sich oft in tiefer Bewunderung an die Literaten der Zeit, die bei weitem nicht immer gut wegkommen, weder künstlerisch noch moralisch.

Den ganzen Roman über herrscht eine Spannung zwischen den beiden Ebenen, der surrealen Orlandos und der sehr nüchternen der Biographin. Das Fantastische an Orlandos Leben wird übrigens nie in Frage gestellt, Orlando ist auch nicht der einzige Mensch, der offenbar mehrere hundert Jahre leben kann. Ist halt so. Ich kann fantastische Literatur (normalerweise) wirklich auf den Tod nicht leiden, aber in diesem Fall macht gerade das mit den Reiz des Romans aus, der mit Erzählkonventionen und -strukturen bricht und vielleicht die einzige angemessene Form für diesen gebrochenen und faszinierenden Charakter sein kann.

Gewidmet ist Orlando Vita Sackville-West, mit der Virginia Woolf eine tiefe Freundschaft und zeitweise auch eine Beziehung hatte. Sackville-West spielte mit Geschlechterrollen, (ver)kleidete sich oft als Mann und hatte (ebenso wie ihr Mann) verschiedene homosexuelle Beziehungen.  Der Roman gilt einigen Literaturwissenschaftlern als der längste Liebesbrief der Literatur.


Virginia Woolf: Orlando. A Biography. Introduction by Tilda Swinton. Canongate 2012. 263 Seiten, ca. €9,50. Erstausgabe Hogarth 1928. Letzte deutsche Ausgabe in der Neuübersetzung von Melanie Walz. Insel 2015.

Zitat: S. 122.

8 Gedanken zu “Virginia Woolf: Orlando”

    1. Die Verfilmung habe ich nach dem Lesen auch gesehen, für diese Ausgabe hat sie ja sogar das Vorwort geschrieben. Vom Film war ich auch sehr angetan! Das ist sonst eher selten bei Literaturverfilmungen.

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  1. Ich habe es bislang noch nicht gelesen, auch den Film nicht gesehen. Es steht unbedingt auf der Liste, ich bin gespannt auf die Reise durch die Epochen (und Geschlechter). Schön, dass du auf die Widmung hingewiesen hast, das ist wirklich sehr interessant und passend.

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