Freunde und Verrat – „Der Sohn des Akkordeonspielers“ von Bernardo Atxaga

David und Joseba wachsen gemeinsam in einem kleinen Dorf im Baskenland nahe Gernika auf. Jahre später kämpfen sie unter den Namen Ramuntxo und Etxeberria im Untergrund für ein unabhängiges Baskenland. Erst Jahrzehnte später und auf einem anderen Kontinent können sie sich wieder als David und Joseba in die Augen sehen.

Obaba ist ein kleines Dorf im Baskenland. Man kennt sich, aber vertraut sich nicht. David, der Sohn des Akkordeonspielers, wächst dort auf im politisch angespannten Klima der 1960er und 70er Jahre. Sein Vater Ángel ist als begabter Musiker geschätzt, als Vater aber jähzornig und aufbrausend. David verbringt so wenig Zeit wie möglich mit ihm und lebt stattdessen fast komplett auf dem Pferdehof seines Onkels. Schon als Jugendlicher lernt er, dass man außer seien engsten Freunden besser niemandem vertraut. Man weiß nie, wer auf welcher Seite steht und wer sie wie schnell zu wechseln bereit ist.

„Was ist von jemandem zu erwarten, der eine solche Vorgeschichte hat, der in einem politischen Umfeld aufwächst, in dem das Baskische selbst auf Grabsteinen verboten war?“

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Variationen von Selbsthass – „Damenbart“ von Sarah Pines

In ihrem Debüt-Band Damenbart erzählt Pines Geschichten von unglücklichen, einsamen Menschen. Sie leben in Los Angeles und Buffalo, urlauben in Bacharach und verlieben sich in Griechenland. Die meisten von ihnen sind Frauen, alle sind verzweifelt. Die Texte lesen sich dabei ganz unterschiedlich. Nüchtern erzählt Pines von einer Frau, der Trägerin des titelgebenden Damenbarts, die an ihrem Geburtstag versetzt wird und sich aus lauter Verzweiflung die Nase bricht. Sachlich und ein wenig wehmütig wird die Geschichte der Schauspielerin Peg erzählt, ein schwarz-weißer Filmstar, der den Übergang in den Farbfilm nicht schafft – zu rot ist ihr Gesicht, zu hell ihre Augen – und sich vom Hollywood-Schriftzug stürzt. Gewalttätig und tragisch enden fast alle Geschichten. Gemeinsam haben sie einen Stil, der mit perfekt abgestimmten und teilweise sehr überraschenden aber überzeugenden Bildern überzeugt.

So werden die Texte auch nicht langweilig, obwohl sie doch einiges gemeinsam haben. Viele der Figuren sind mehr oder weniger abgehalfterte Schauspielerinnen, viele hassen ihre Ehemänner und trösten sich mit Liebhabern. Mit denen sind sie aber auch nicht zufrieden. Ein wenig fragt man sich, warum keine einzige von ihnen versucht, eine andere Erfüllung in ihrem Leben zu finden. Vielleicht liegt es daran, dass die meisten von ihnen auch mit sich selbst nicht zufrieden sind und unter ihrem Selbsthass noch mehr leider als unter ihrer Einsamkeit. Sie stehen vor dem Spiegel und hassen sich dafür, dass alle ihre Kleider kneifen und ihre Haut nie wieder rosig und jung sein wird. Sie sind abgehängt von der Welt, von Farbfilm oder Netflix, verhöhnt von den Affären ihrer Männer, gescheiterte Figuren, die doch nur träge auf dem Sofa liegen. Wenn sie einkaufen fahren, ziehen sie sich nicht mehr richtig an, sondern stopfen nur schnell den Saum des Nachthemds in die Jogginghose. Unter dem Mantel sieht das keiner und für mehr ist keine Energie mehr da.

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Essen aus Büchern: Indian Tacos aus Tommy Oranges „There There“

Herkunft und Identität sind die zentralen Themen in Tommy Oranges Roman There There, in dem er sich mit der Kultur von Native Americans befasst, ihrer Zerrissenheit und Entwurzelung. Ein immer wieder genanntes Gericht sind die Indian Tacos, die zumindest für einige Charaktere ein echtes Highlight sind, darunter Orvil und sein Bruder:

„They only knew about Indian tacos because their grandma made them for their birthdays. It was one of the few Indian things she did. And she was always sure to remind them that it’s not traditional, and that it comes from lacking resources and wanting comfort food.“

Indian Tacos basieren auf einem frittierten Fladenbrot, dem Navajo fry bread. Es entstand zur Zeit der als „Long Walk“ bezeichneten Zwangsumsiedlung von rund 9.000 Menschen, mit der 1864 begonnen wurde. In dieser Zeit wurden in Rund 50 Marschtrupps vor allem Navajos zu Fuß über knapp 500 Kilometer vom heutigen Arizona nach New Mexico gebracht. Mindestens 200 überlebten die Strapazen nicht. Aus den kargen zur Verfügung gestellten Rationen entwickelten die Navajo das heute berühmte und berüchtigte fry bread. Vielen gilt es mittlerweile als Sinnbild für die um sich greifenden Zivilisationskrankheiten heute lebender Navajo: aus Weißmehl und frittiert, ohne wahren Nährwert, dafür mit jeder Menge Kalorien – als Basis gesunder Ernährung dient es nun wirklich nicht. Und doch ist es unverzichtbar. Es ist ein zentrales Element und identitätsstiftender Baustein der Esskultur geworden, eine Erinnerung an das kollektive Trauma der Vertreibung und ein Muss bei jedem Powwow. Und das, obwohl es auf so unschöne Art seinen Weg in die Kultur gefunden hat.

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Mühsamer Weg in die Welt – „A Gate at the Stairs“ von Lorrie Moore

Tassie Keltjin, Tochter eines Kartoffel-Farmers aus dem Mittleren Westen der USA, kommt zum Studium in die Kleinstadt Troy, deren Bevölkerung vor allem aus Studierenden besteht. Wahllos belegt sie Kurse in Sufismus, Weinkunde und Hüftmobilisierung und macht sich auf Jobsuche. Nach einigen Anläufen bekommt sie das Angebot, bei Sarah und ihrem Mann Edward als Kindermädchen zu arbeiten. Das Kind allerdings gibt es noch nicht. Sarah ist noch nicht einmal schwanger und wird es auch nicht mehr werden. Sie und ihr Mann haben sich entschlossen, ein Baby zu adoptieren.

Schließlich halten sie Mary im Arm, ein Mädchen, das die Adoptions-Agentur ihnen eigentlich gar nicht anbieten wollte. Denn Mary ist Schwarz und mit fast zwei Jahren auch schon älter als die meisten Adoptiveltern es sich wünschen. Doch Sarah und Edward kann das alles nicht schrecken und schon bald liegt Emmie, wie sie nun heißt, in ihrem neuen Gitterbett. Doch die Herausforderung ist größer, als zunächst gedacht. Sarah und Tassie begegnen bei ihren Spaziergängen mit Emmie immer wieder mehr oder weniger offenem Rassismus. Weiße Frauen mit einem Schwarzen Baby? Da glauben scheinbar alle zu wissen, was los ist.

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Sieg um jeden Preis – „The Sport of Kings“ von C. E. Morgan

Henry Forge, Nachkomme einer reichen Farmer-Familie in Kentucky, hat schon als Kind große Pläne. Er will sein Leben nicht wie sein Vater an den Maisanbau vergeuden, sondern als Züchter von Vollblutpferden bekannt und noch viel reicher werden. Sein Vater – erzkonservativ, Rassist, Sexist, Tyrann – will davon nichts hören. Doch kaum ist der unter der Erde, baut Henry schon die ersten Ställe. Und tatsächlich wird sein Traum wahr. Mit riskanten Zuchtmanövern und schnellen Pferden macht er unter Kennern des „Sports der Könige“ bald von sich reden. Nur seine Frau kann er damit auf Dauer nicht begeistern. Sie hat bald genug von dem Familiendespoten, der zwar mit dem Maisanbau abgeschlossen hat, aber sonst fast alle Ansichten seiner Vaters ungefiltert übernommen hat. Sie lässt die junge Tochter Henrietta auf der Farm zurück und sucht ihr Glück in Europa.

Henrietta wiederum verliebt sich eines Tages Hals über Kopf in den Stallburschen Allmon, der sehr zum Verdruss Henrys Schwarz ist und aus überhaupt keinem guten Haus. Die Erbin des Hauses Forge ist drauf und dran den Ruf ihres Vaters zu ruinieren, schlimmer noch, den ganzen Namen Forge. Henry, der seine Ansprüche an genetische Reinheit nicht nur an Rennpferde stellt, sieht sich ein weiteres Mal gezwungen, der Evolution auf fragwürdige Art unter die Arme zu greifen.

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Essen aus Büchern: Chicken à la King aus Richard Yates „Easter Parade“

Sarah und Emily Grimes, die jungen Protagonistinnen in Easter Parade, sind stolz auf ihren Vater. Er lebt in New York und schreibt für die New York Sun, die wichtigste Zeitung der Stadt, die Überschriften, was die wichtigste Stelle in der ganzen Redaktion ist. Da sind sich Sarah und Emily sicher und es ist das, was sie den anderen Kindern sagen, wenn sie fragen, warum er nicht mehr nach Hause nach New Jersey kommt. Weil er eben in New York unabkömmlich ist.

Der Besuch beim Vater gerät dann allerdings zur Enttäuschung. Die New York Sun ist, das findet sogar der Vater selbst, keine besonders gute Zeitung und er hat nicht mal einen eigenen Schreibtisch. Am Rande eines großen Tisches sitzt er und korrigiert Artikel. „Wenn ich sehr talentiert wäre, würde ich vermutlich woanders hingehen, aber ich bin nur – ihr wißt schon – ich bin nur ein Mann am Redaktionstisch, ein Korrektor“, gesteht er seinen Töchtern beim Mittagessen, zu dem er sich einen großzügigen Aperitif gönnt:

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In den Trümmern des Empire – „The Inheritance of Loss“ von Kiran Desai

In Kalimpong, einer Stadt in der indischen Peripherie am Fuße des mächtigen Himalaya, wird die junge Sai eines Tages bei ihrem Großvater abgeliefert, bei dem sie von nun an leben soll. Sie ist Waisin und bisher in einem Internat großgeworden. Der Großvater, ehemals Richter im indischen Kolonialstaat und in Cambridge ausgebildet, ist völlig desillusioniert von der Welt im allgemeinen und vom englischen Empire im besonderen. Einst hielt er viel von den eleganten Briten. Doch seitdem er versucht hat, Teil ihrer Gesellschaft zu werden und nur verlacht wurde, empfindet er nur noch Groll gegen sie und ihre überhebliche Art.

Die beiden teilen sich das einst herrschaftliche Haus mit dem namenlosen Koch, der sein ganzes Talent dafür aufbringt, den Hausstand beisammenzuhalten und all seine Hoffnung in seinen Sohn steckt, der es endlich nach New York geschafft hat. Seine Generation sieht die Zukunft nicht mehr in einer englischen Universität, sondern im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Wie so viele Migranten erkennt er vor Ort schnell, dass seine Möglichkeiten durchaus begrenzt sind. Als illegalisierter Einwanderer arbeitet er für einen Hungerlohn in einer schäbigen Restaurantküche, schläft in überfüllten Appartements oder gleich auf dem Küchenboden. Seinem Vater gegenüber muss er das alles natürlich als große Erfolgsgeschichte verkaufen.

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Das Ende ist nah – „Weather“ von Jenny Offill

Lizzies Leben ist aufreibend. Sie hat nicht nur Mann und Kind, sondern auch eine Mutter, deren Glaube langsam ans Fanatische grenzt und einen drogenabhängigen Bruder, der sich wochenlang bei ihr einquartiert. Ihr Berufsleben als Bibliothekarin ist da nicht ganz so turbulent. Dann allerdings wendet sich Sylvia, eine ehemalige Dozentin an sie. Sie ist eine Art populäre Intellektuelle, die landesweit Vorträge hält und mit ihrem Podcast „Hell and High Weather“ ein riesiges Publikum erreicht. Ihr Hauptthema: der Klimawandel, die Zerstörung der Welt und wie uns das alle ruinieren wird. Aus ihrer Zuhörerschaft erreichen sie inzwischen so viele Mails, dass sie jemanden braucht, der sie beantwortet. Und das wird nun eine weitere Aufgabe für Lizzie.

„I swear the hippie letters are a hundred times more boring than the end-timer ones. They are all about composting toilets and water conversation and electric cars and how to live lightly on the earth while thinking ahead for seven generations.“

Lizzie liest Mails und noch mehr Mails, von besorgten Eltern, selbstgerechten Hippies und paranoiden Preppern. Sie hört jede Folge des Podcasts und liest Tonnen von Büchern zu dem Thema. Es dauert nicht lange, bis auch sie vom nahenden Ende der Welt überzeugt ist. Macht das alles noch Sinn? Gibt es irgendwo auf dieser Welt noch eine sicheren Ort? Wird es ihn auch in dreißig Jahren noch geben? Das sind die Fragen, die sie bewegen, während sie ihrem Sohn beim Spielen zuschaut. Sie sieht eine Katastrophe auf sich zurollen, deren Ausmaß sie noch nicht abschätzen kann. Zur Entspannung besucht sie einen Meditationskurs, aber die sehr pragmatische Einstellung ihrer Lehrerin macht eigentlich alles nur noch schlimmer. Ihr Gefühl vergleicht die New Yorkerin Lizzie mit der Zeit nach 9/11, als eine spürbare Anspannung in der Luft lag und alle über das gleiche Thema sprachen und die gleiche Angst hatten.

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Der Herzschlag des Dschungels – „State of Wonder“ von Ann Patchett

Die erschütternde Nachricht erreicht Marina Singh auf einem hauchdünnen Bogen Luftpost-Papier: ihr Laborkollege Anders Eckman, der im Auftrag des gemeinsamen Arbeitgebers im brasilianischen Urwald unterwegs war, ist dort an einer nicht näher definierten Krankheit verstorben. Oder ist er gar nicht tot? Anders Frau und die Firma, für die er gearbeitet hat, wollen Gewissheit haben. So wird es Marinas Mission, sich auf seinen Spuren ebenfalls ins Dschungel-Abenteuer zu stürzen.

Dort forscht an einem Nebenarm des Rio Negro Annick Swenson seit Jahren an einem sensationellen Medikament: sie hat entdeckt, dass die Frauen der dort lebenden Lakashi bis ins hohe Alter gebärfähig bleiben und glaubt, dem Grund auf der Spur zu sein. Ihr Arbeitgeber wittert ungeahnte Möglichkeiten – die ewige Fruchtbarkeit würden sich viele Frauen in den USA sicher einiges kosten lassen. Marinas Verhältnis zu Annick Swenson ist ausgesprochen angespannt. Als Medizinstudentin hat sie unter Swensons Aufsicht einen folgenschweren Fehler begangen und danach der praktizierenden Medizin für immer abgeschworen. Sie hat sich diesen Fehler nie verziehen und ist sich sicher, dass auch Swenson noch immer voller Vorwürfe sein wird. Doch schon bald nach ihrer chaotischen Ankunft in Manaus beginnt sie zu ahnen, dass Swenson mit ihrem vorherigen Leben nicht mehr viel zu tun haben wird und wahrscheinlich auch von ihrem Arbeitgeber und Geldgeber gar nicht so viel wissen will. Marina fürchtet bald, dass es Dr. Swenson bei ihrem Projekt gar nicht um ewige Fruchtbarkeit in Pillenform geht.

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Nothing is free in America – „Dominicana“ von Angie Cruz

Ana ist gerade 13 Jahre alt, als der mehr als doppelt so alte Juan beschließt, dass sie seine Frau werden soll. Das Angebot kann sie nicht ausschlagen. Er ist einer der Ruiz-Brüder, die es in New York zu Wohlstand gebracht haben und vorteilhafte Geschäfte für ihre Familie versprechen. Anders als ihre Schwestern und Freundinnen hat Ana nie von einem Leben in den USA geträumt. Aber es ist der Traum ihrer Generation und ihrer Familie und irgendjemand muss ihn eben leben. Pech für Ana, dass es gerade sie trifft. Als sie 15 ist, holt ihr Bräutigam sie ab. Die Hochzeitszeremonie besteht darin, dass Juan gefälschte Papiere besorgt, nach denen sie erstens 19 und zweitens seine Frau ist und am nächsten Morgen landet sie schon in New York.

Ana träumt davon, zur Schule zu gehen, Englisch zu lernen, vielleicht sogar zu studieren. Sie will ein eigenes Unternehmen gründen und ein eigenes Auto fahren, schöne Kleider tragen und ein selbstständiges Leben führen. Nichts davon erwartet sie in New York. Die riesige Stadt überfordert sie, aber Juan lässt sie ohnehin nicht alleine aus der Wohnung. Während er arbeiten ist, hütet sie das Haus, putzt und kocht und verkauft Bekannten ihres Mannes Anzüge, die vom Lastwagen gefallen sind. Von Schule und Ausbildung ist keine Rede mehr. Sie solle fordern, hatte ihre Mutter ihr geraten: Kleider, Geld, Schmuck. Doch wenn sie fordert, sagt Juan nur nein, er könne es sich nicht leisten. Zu allem Überfluss hat Juan auch noch eine Beziehung zu einer anderen Frau, und das schon seit Jahren. Ana bleibt nichts, als es zu akzeptieren. Heimlich legt sie Dollar für Dollar zur Seite und hofft, davon bald einen Flug nach Hause zahlen zu können, denn New York wird niemals ihr zu Hause sein, das weiß sie sofort. Einen Lichtblick in dieser hoffnungslosen Situation gibt es erst, als Juan für mehrere Wochen verreist. In der Dominikanischen Republik ist ein Krieg ausgebrochen, Juan muss dort nach dem Rechten und seinem Besitz sehen. Ana bleibt alleine in New York zurück und kann endlich die Freiheit erleben, die sie sich von den USA erhofft hatte.

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