Krumm gewachsen – Alte Sorten

Liss und Sally, zwei Frauen, die nur auf den ersten Blick ganz unterschiedlich sind, begegnen sich in diesem Roman durch einen Zufall. Das entpuppt sich als echter Glücksfall, denn sie halten den Schlüssel zur Heilung der jeweils anderen in ihren Händen.

Ohne viel Hilfe und beinahe verbissen bewirtschaftet Liss ihren Hof. Nicht großes, aber trotzdem viel Arbeit – ein paar Hühner, Obst, Wein. Unverhofft begegnet sie eines Tages bei der Arbeit der bedeutend jüngeren Sally. Die ist gerade aus der Klinik abgehauen, in der sie sich ebenso drangsaliert und unverstanden fühlt wie in ihrem Elternhaus. Spontan bietet Liss der Ausreißerin Unterschlupf an, ohne über die Konsequenzen nachzudenken.

Zunächst leben die beiden nebeneinander her – Liss, die es nicht mehr gewohnt ist, Gesellschaft zu haben und Sally, die keine Lust mehr hat, sich immer wieder zu erklären, warum sie nicht isst und warum sie so viele Narben an Armen und Beinen hat. Bei der Arbeit kommen die beiden sich allmählich näher. Sally ist froh, dass Liss offenbar gar nichts von ihr wissen will und Liss ist froh, dass Sally einiges von ihr wissen will, wenn auch nichts Privates. Sie reden über Bienen, Maische, alte Birnensorten.

Und genau in diesen Themen liegt auch einer der großen Schwachpunkte des Romans. Die Dialoge zwischen Sally und Liss zu den landwirtschaftlichen Themen wirken oft gekünstelt und hölzern. Es gelingt nicht, alle notwendigen Informationen in dieses Format zu pressen, und zugleich eine lebendige Unterhaltung darzustellen. Viel mehr klingt es, als habe der Autor diverse Fachliteratur zu diesen Themen gelesen und wolle jetzt wenigstens ein bisschen was davon unterbringen.

„Wenn man die Besten sein soll, dann muss man Dinge wissen, die die anderen nicht wissen. Dann muss man wissen, dass es in diesem Land nicht genügt, dass es einfach dunkel und wieder hell wird. Weil alles seine Ordnung haben muss.“

S. 102

Während Sallys Leiden von Anfang an recht deutlich ist, wird die dunkle Vergangenheit von Liss erst nach und nach enthüllt. Warum sie nicht über das Herrenrad im Schuppen sprechen möchte, warum sie im Dorf gemieden wird, all das erfährt man erst im letzten Drittel des Romans. Dabei hätte ein wenig des Drives, den Liss‘ Vergangenheit in die Geschichte bringt, auch dem ersten Teil des Romans ganz gut getan. Da tritt die Handlung nämlich manchmal ganz schön auf der Stelle, sieht man mal von einem behandlungsbedürftigen Varroamilben-Befall ab.

Es gibt gute und schlechte Phasen in der Freundschaft der beiden Frauen und auch zumindest ein großes Missverständnis, das beinahe alles zerstört hätte. Doch sie raufen sich zusammen und was anderes bleibt ihnen auch kaum übrig – mal ist die eine stark, mal ist die andere zerbrechlich, aber am Ende passen sie zusammen wie ein Freundschaftsherz aus der Wendy. Gemeinsam halten sie den Schlüssel zu ihrer Heilung in Händen und was all die besserwisserischen Reha-Kliniken nicht geschafft haben, das schafft die Landluft und das kniehohe Gras zwischen den Obstbäumen: Sally kann Heilung finden und Liss helfen, Frieden mit ihrer Vergangenheit und Gegenwart zu schließen.

Alte Sorten sind im Obstbau nicht nur dafür bekannt, dass sie schief wachsen, blöd zu ernten und besonders widerstandsfähig sind, sondern auch für die Tiefe und Vielfalt ihres Geschmacks. Die erreicht der Roman nicht. Er bleibt auf solidem Tafelbirne Conference-Niveau – geschmacklich okay aber ohne besondere Charakteristik und nichts, woran man sich lange erinnert.

Ewald Arenz: Alte Sorten.
DuMont 2020, 256 Seiten.
978-3832165307

(Außerdem – und das jetzt aber wirklich als side note – ärgert es mich, dass der Roman strikt nach Daten aufgebaut ist, vom 01. September – 15. Oktober, Sally aber ausgerechnet am 03. Oktober, einem bundesweiten und unbeweglichen Feiertag, ein Zeitungsarchiv aufsucht, obwohl wirklich alles dafür spricht, dass der Roman in Deutschland spielt.)

8 Gedanken zu “Krumm gewachsen – Alte Sorten”

    1. Mit dieser Einschätzung bist du nicht allein! Der Roman ist wirklich sehr positiv aufgenommen worden und auf den einschlägigen Plattformen sind die Bewertungen weit überwiegend positiv. Mich hat er leider nicht erreicht – mir fehlte dann doch so einiges, um den Text zu etwas Besonderem zu machen.

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  1. Ich habe das Buch gerne gelesen und habe seinerzeit sogar eine sehr unterhaltsame Lesung mit Ewald Arenz besucht (er kommt ja aus meiner Nachbarschaft).

    Aber jetzt, wo Dus sagst: An mehr als an die beiden Frauen, irgendwas mit Birnen und den Karner (der hat mich sehr fasziniert) kann ich mich tatsächlich nicht erinnern.

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    1. Ja, den Karner fand ich auch spannend. Auch, dass der einfach offen ist. Man kennt das ja aus den Katakomben großer Städte, und sicher gibt es auch mehrere „Miniatur“-Ausführungen, aber ich kenne das tatsächlich nur als streng bewachte Orte, die nur im Rahmen von Führungen zugänglich sind. Mit gutem Grund sicher.

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      1. Garantiert aus gutem Grund. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie viele schräge Gestalten es gibt, die ihr Zuhause gerne mit ein paar Knochen oder einem Totenkopf „verschönern“ möchten. Generell scheint man in Deutschland ohnehin alles mitzunehmen, was nicht niet- und nagelfest ist. Ich habe neulich ein Interview mit dem Künstler Ottmar Hörl gelesen, der vor allem für seine Kunststoff-Figuren bekannt ist, die er als Installation in Städten aufstellt. Letztes Jahr kamen ihm während der Bayreuther Festspiele alle 115 aufgestellten Wagner-Figuren abhanden. Bei der Aufnahme der Anzeige meinte ein Polizist lapidar: „Der Bürger klaut alles.“

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