Chaotische Verhältnisse – Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren

Romys Kindheit ohne Mutter und mit kriminellem Vater ist nicht nur eine wahre Tragödie, sondern auch eine Aneinanderreihung von Absurditäten, von denen die Protagonistin mit einer Mischung aus Verzagheit und lässiger Attitüde erzählt.

Auf einem Schrottplatz wächst Romy, die Erzählerin dieses Romans, nun gerade nicht auf, zumindest nicht im eigentlichen Sinne. Von geordneten Verhältnissen kann man aber auch nicht sprechen, wenn man betrachtet wie sie und ihre Brüder Jonny und Clint groß werden. Ihre Mutter ist bei der Geburt der Zwillinge Clint und Romy gestorben und nun wachsen sie beim alleinerziehenden Vater Theodor auf. Wobei sich die Erziehung im wesentlichen darauf beschränkt, dass die Kinder gerade am Tisch sitzen sollen. Alles weitere ist ihm herzlich egal und nur, wenn das Damoklesschwert der Inobhutnahme durch das Jugendamt mal wieder bedrohlich über ihm schwebt, reißt er sich lange genug zusammen, um zumindest das Schlimmste abzuwenden, wird dabei aber nicht müde zu erzählen, dass er sich quasi auch selbst erzogen habe, was ihm schließlich auch nicht geschadet hätte.

Sein Geld könnte er als Arzt ganz gut in seinem Haupterwerb verdienen, geht aber nebenbei allen möglichen und unmöglichen Geschäften nach, drei Viertel davon illegal, um die Familienkasse aufzubessern, von der er zumindest behauptet, sie sei notorisch leer. Auch darunter leiden seine Kinder, die in richtig peinlichen Klamotten in die Schule müssen, weil für anständige Sachen eben kein Geld da ist, oder zumindest nicht ausgegeben wird. Die wichtigste Bezugsperson im Leben der Geschwister wird bald Sultan, den Theodor im Rahmen einer Schutzgelderpressung kennengelernt hat und der kurz darauf bei der Familie einzieht. Er kümmert sich um Einkauf, Essen, Erziehung und Frisuren und bringt zumindest für einige Zeit ein wenig Stabilität in die dysfunktionale Familie.

„Wie die Leute immer auf uns runtergeguckt haben, wie: Du hast zwei verschiedene Socken an, deine Hausaufgaben nicht gemacht, guck mal, dein Hemd ist ganz dreckig, und wie dein Vater aussieht, ad alpha, ad beta, lirum larum Einbauküche. Hurensöhne, richtig behinderte. Wenn Theodor mir eins beigebracht hat, dann dass man nicht auf andere Leute runterguckt.“

S. 102

Romys Rückblick auf diese Jahre wird im Buch flankiert von einer wilden Fahrt durch die Nacht. Am Geburtstag der mittlerweile erwachsenen Zwillinge ist Theodor verschwunden und geht auch nicht ans Telefon. Besorgt treffen Jonny, Clint und Romy sich im Haus des nicht Erreichbaren, im Haus ihrer Kindheit, und beschließen schließlich, besoffen oder zugekokst oder beides, sich im Porsche des Vaters auf die Suche zu machen.

Von außen betrachtet ist Romys Kindheit tatsächlich ein Schrottplatz. Doch verlassen will sie ihn nicht. Sie und ihre Geschwister lieben den Vater, trotz aller Differenzen, und es ist ihre größte Angst, dass das Jugendamt sie „wegholt“. Größtenteils erzählt sie in rotzigem, trotzigem Ton von ihrer Kindheit und legt eine Attitüde an den Tag, die zumindest aussehen soll, als sei ihr das alles ganz egal. Sie und ihre Brüder haben früh gelernt, dass sie sich nicht um Konventionen, Regeln und Gesetze scheren müssen, und das tun sie auch nicht. Sollen die Nachbarn sie doch für die Flodders halten. Aber manchmal kommt dann doch ein Wunsch nach ein bisschen mehr Normalität durch, nach ein bisschen mehr Stabilität und Orientierung. Nach einem Leben in einem aufgeräumten, sauberen Haus, das sie jeden Morgen geduscht, frisiert, in sauberen Klamotten und mit gemachten Hausaufgaben verlassen können. Doch stattdessen driften die Geschwister früh ab in Kleinkriminalität und Drogenkonsum.

Nicht nur der meistens humorvolle, manchmal grobe Erzählton hält die Geschichte davon ab, die Erzählung einer tragisch-traumatischen Kindheit zu werden. Sie ist auch schlicht zu absurd. So geht ein guter Teil des Romans für eine Episode drauf, in der Theodor ein Wettbüro in Berlin eröffnen will, was unter anderem daran scheitert, dass sein ebenfalls beteiligter Freund Kalli unbedingt seine Vogelspinne in einer Tupperdose mitbringen muss und versucht, eine Hahnenkampf-Arena zu etablieren. Auch diverse andere Haupt- und Nebenfiguren sind so grotesk, dass sie nicht in eine ganz normal verkorkste Kindheit in einer deutschen Kleinstadt passen wollen. Das aber schadet dem Roman nicht, sondern trägt ihn im Gegenteil.

Antonia Baums Roman ist eine spannende und sehr unterhaltsame Mischung aus Sozialdrama und Slapstick, aus Übertreibung und Tiefgang, aus harter Schale und weichem Kern. Eine ungewöhnliche und temporeiche Familiengeschichte, geprägt von Liebe, Verbundenheit und Überforderung.

Antonia Baum: Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren.
Suhrkamp 2017, 398 Seiten.
978-3-518-46772-5

3 Gedanken zu “Chaotische Verhältnisse – Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren”

  1. Ich frage aus purer Neugier, wie bist du auf dieses Buch gekommen? Der Titel ist ja herrlich absurd, und für mich hört es sich ein wenig wie „Zazie in der Metro“ an, nur nicht in Paris, aber völlig verschroben.

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    1. Ich glaube, ich habe das einfach in der Vorschau gesehen, als ich noch im Buchhandel war. Vielleicht habe ich es sogar noch eingekauft. Gelesen habe ich es dann nie, aber der Titel bleibt einem natürlich im Gedächtnis. Als ich dann mal wieder „noch 2,81 € bis zum kostenlosen Versand“ bei medimops vollkriegen musste, ist es in meinen Einkaufswagen gewandert.

      Allerdings hatte ich ein ganz anderes Buch erwartet – irgendwie leichter und mit weniger ernsten Untertönen. Aber das macht ja nichts.

      „Zazie in der Metro“ will ich übrigens auch seit hundert Jahren lesen. Danke für die Erinnerung!

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  2. Das Buch klingt ganz cool. Aber…

    „Auch diverse andere Haupt- und Nebenfiguren sind so grotesk, dass sie nicht in eine ganz normal verkorkste Kindheit in einer deutschen Kleinstadt passen wollen“

    … unterschätze deutsche Kleinstädte nicht 😀

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