Kurz nach Ende des Krieges ist die Lage von Frances Wray und ihrer Mutter verzweifelt. Beide Söhne der Familie sind gefallen, der Vater ist ebenfalls verstorben, noch dazu mit einem Berg Schulden. Das große Stadthaus in einem Londoner Vorort ist teuer und zeitaufwendig im Unterhalt, an eine Dienerschaft ist gar nicht mehr zu denken. Schließlich entschließen die beiden Frauen sich, einige Räume an das junge Ehepaar Lilian und Leonard Baber zu vermieten, um ihre Schulden abtragen zu können. Das soziale Umfeld, ohnehin schon entrüstet, weil bei Wrays selber geputzt wird, bezeichnet die Untermieter lieber als „zahlende Gäste“, das riecht weniger nach sozialem Abstieg.
„One good thing about them being so young: they’ve only his parents to compare us with. They don’t know that we really haven’t a clue what we’re doing. So long as we act the part of the landladies with enough gusto, then landladies is what we we’ll be.“
Zu Beginn tun die Wrays sich schwer mit den neuen Mitbewohnern. Frances ist brüskiert von Leonards jovialer Art, während ihre Mutter entrüstet bemerkt, wie lange Lilian schläft und wie oft sie badet. Zunächst bleiben die beiden auf Distanz, nur gelegentliche Blicke ins Wohnzimmer und das Zusammentreffen in der Küche geben einen Eindruck vom Leben der anderen. Und diese Leben könnten auf den ersten Blick verschiedener kaum sein: während Frances sich mit Ende 20 schon zum alten Eisen zählt und sich mit ihrer Rolle als Haushälterin abgefunden hat, wirkt Lilian viel unbeschwerter und jünger, obwohl sie es in Jahren kaum ist. Einzig ihre Ehe mit Leonard scheint nicht immer einfach zu sein. Das verrät sie Frances schnell, nachdem zarte Freundschafts-Bande zwischen den beiden entstehen.
Schnell wird mehr daraus. Nach einem unbedachten Kuss entwickelt sich eine leidenschaftliche Affäre zwischen der verheirateten Lilian und ihrer Vermieterin. Doch wie soll es für die beiden weitergehen? Die konservative Gesellschaft der 1920er-Jahre lässt kaum Raum für eine gleichgeschlechtliche Beziehung, das hat Frances in jüngeren Jahren bereits leidvoll erfahren müssen. Sie weiß, dass ihre Mutter ihr einen weiteren Ausbruch aus der Norm nicht verzeihen würde. Und für Lilian kommt eine Scheidung kaum in Frage. Zwar träumen beide immer mal davon, gemeinsam durchzubrennen und eine glückliches, freies Leben zu führen, doch im Grunde wissen sie beide, dass sie weder den Mut, noch die finanziellen Mittel dafür haben. Doch dann zwingt sie ein völlig unerwarteter Zwischenfall zum Handeln und bringt ihren Lebensweg in eine neue, völlig unerwartete und nicht sehr willkommene Richtung.
Sarah Waters lässt sich Zeit für die Entwicklung der Figuren und ihrer Geschichte. Ein bisschen viel Zeit. Besonders die erste Hälfte des Romans hätte die ein oder andere Raffung durchaus vertragen. Waters verliert sich mitunter in noch mehr Bildern und noch mehr Vergleichen, noch mehr Erröten und hastigem Richten von Frisuren und Glätten von Kleidung. Der Roman ist in dieser ersten Hälfte so sehr auf Frances und Lilian und ihre aufkeimende Liebe fixiert, dass man Waters einzig zugute halten kann, dass das besondere an dieser Liebe eben ihre Unmöglichkeit ist. Ohne das wäre es eine unfassbar langatmige und fast banale Liebesgeschichte. Anders als in anderen Romanen von Waters tritt die Außenwelt massiv hinter der Liebe der Hauptcharaktere zurück, die sich ja auch nur hinter den verschlossenen Türen des Stadthauses abspielen darf. Die Zeitgeschichte liefert den Rahmen, aber beinahe keine Handlung. In der zweiten Hälfte des Romans geht es dann ein wenig mehr zur Sache, es kommt mehr Personal und Bewegung in die Geschichte, aber noch immer verlieren sich Szenen in Details und Bildern und werden unnötig in die Länge gezogen.
Die Grundhandlung des Romans ist überhaupt nicht schlecht, der Aufbau ist smart und funktioniert gut. Der sehr romantische und leidenschaftliche Teil ist ein guter Gegenpart zu dem viele sachlicheren zweiten Teil, in dem eine Liebe, die bisher nur im Schlafzimmer existieren konnte, sich plötzlich in einer sehr harschen und bedrohlichen Realität beweisen muss. Und das, ohne dabei als solche erkannt zu werden. Waters hat ausreichend Erfahrung im Schreiben lesbischer Liebesgeschichten vor 1945, das kriegt sie also alles gut hin. Die Geschichte hätte allerdings gut auf mindestens ein Viertel ihrer Seiten verzichten können.
tl;dr: Waters erzählt die Geschichte zweier Frauen, die sich Hals über Kopf ineinander verlieben. Ihre Liebe ist eine Unmöglichkeit im England der 1920er-Jahre und sie verharren in Ratlosigkeit, bis ein plötzlicher Zwischenfall eine dramatische Wende herbeiführt. Gute Geschichte, gut komponiert, aber auch mit langen, langen Längen.
Sarah Waters: The Paying Guests. Riverhead Books 2015. 638 Seiten. Erstausgabe ebd. 2014. Eine deutsche Übersetzung von Ute Leibmann ist unter dem Titel Fremde Gäste bei Lübbe erschienen.
Das Zitat stammt von S. 10.
Mit diesem Roman stand Waters 2015 auf der Shortlist für den Baileys Women’s Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction. Weitere Roman von Waters, die im Rahmen des Leseprojekts vorgestellt wurden sind Fingersmith und The Night Watch.
Wir fanden diesen Roman etwas altbacken und langatmig, wenn er auch in damaliger Zeit ziemlich revolutionär war.
Danke für deine Rezension
The Fab Four of Cley
🙂 🙂 🙂 🙂
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Danke für deinen Kommentar! Der Roman ist ja erst 2015 erschienen, da konnte man sich das schonmal trauen, aber der Stil kam mir auch etwas antiquiert vor, sicher um den Ton der Zeit besser zu treffen. Und langatmig fand ich ihn auch, sehr sogar – das hätte einige Kürzungen vertragen!
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Schlechtes Lektorat. Welcher Verlag ist das denn?
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Im Original ist es bei Riverhead erschienen. Ich will das aber gar nicht unbedingt dem Lektorat anlasten – Waters war 2015 schon so eine Nummer, dass sie sich ihren Verlag hätte aussuchen können, wenn ihr das Lektorat irgendwo nicht passt.
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Naja, Riverhead ist ja nun nicht gerade ein hochprofessioneller Großverlag.
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Groß sicher nicht, aber sie haben schon ein paar sehr große Namen unter Vertrag. Ich denke schon, dass sie durchaus zu professioneller verlegerischer Arbeit fähig sind. Ob das immer und besonders in diesem Fall so ist, kann ich natürlich nicht beurteilen. Mittlerweile gehört der Verlag auch zu Penguin, wobei ich nicht weiß, seit wann das so ist.
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Ich habe mit Penguin gute Erfahrungen gemacht.
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