London, 1947. Der Zweite Weltkrieg hat nicht nur die Stadt in Schutt und Asche gelegt, sondern auch viele der BewohnerInnen rat- und hilflos zurückgelassen. Fünf von ihnen stehen im Mittelpunkt dieses Romans von Sarah Waters. Viv, die seit Jahren eine Affäre mit einem verheirateten Mann hat und ihr Bruder Duncan, der den gesamten Krieg im Gefängnis verbracht hat. Das Liebespaar Julia und Helen, oft an ihre Grenzen getrieben von Helens Eifersucht, und Kay, die alleine lebt und noch nicht verwunden hat, was sie im Krieg als Sanitäterin gesehen hat.
Alle fünf Charaktere sind miteinander verbunden, oft ohne, dass die anderen davon wissen. Geheime Verbindungen und Beziehungen sind ein Thema, das sich durch den ganzen Roman zieht. Vivian ist seit Jahren mit einem Mann liiert, mit dem sie nicht in der Öffentlichkeit gesehen werden darf. Nur ihre beste Freundin und ihr Bruder wissen von ihrer Liebe. Auch Julia und Helens Beziehung darf nicht bekannt werden, gerade jetzt, wo Julias Autorenkarriere Fahrt aufnimmt. Gerne hätten die beiden eine Haushaltshilfe, aber die würde ja merken, dass das zweite Schlafzimmer nie genutzt wird. Zuneigungsbekundungen in der Öffentlichkeit müssen auf zufällig wirkende Berührungen der Hände beschränkt bleiben. Das andere große Thema ist die Traumatisierung durch den Krieg und wie sehr er jeden Bereich des Lebens auch über sein Ende hinaus beeinflusst.
„They had been patient, all this time. They’d lived in darkness. They’d lived without salt, without scent. They’d fed themselves little scraps of pleasure, like parings of cheese.“
Interessant ist der Aufbau des Romans, denn Waters erzählt ihn im Grunde rückwärts. Die Handlung beginnt im Jahr 1947 und endet 1941, aufgeteilt in drei große Etappen. Verwirrend wird die Geschichte dadurch allerdings keinesfalls, es ist ganz im Gegenteil eine spannende Art, Fragen zu beantworten. Die Handlungsorte sind ebenso divers wie die Charaktere des Romans. Von der tristen Gefängniszelle geht es in die romantische Abgeschiedenheit eines Hausboots, von der Leichenbergung nach einem Bombenangriff in die Stickigkeit eines schlecht belüfteten Großraumbüros. Waters schafft viel Atmosphäre in diesem Roman und baut die Szenen stimmig und detailliert auf – manchmal einen Tick zu detailliert. Besonders bei unangenehmen Szenen fand ich das zum Teil fast nervig, weil ich eigentlich gerne weg und weiter wollte. Wir können annehmen, dass das so gedacht war. Trotzdem hätte dem Buch ein wenig Kürze an der ein oder anderen Stelle nicht geschadet.
Die meisten zwischenmenschlichen Beziehungen in diesem Roman sind oder werden eine Katastrophe, und das waren die wirklich anstrengenden Szenen. Der Abtransport von Leichenteilen ist ein Witz gegen manche selbstzerfleischende Eifersuchtsszenen in diesem Buch. Durch das Rückwärts-Erzählen der Geschichte weiß man ja leider auch schon, dass eine 1945 noch wunderbar funktionierende Beziehung zwei Jahre später nicht mehr sein wird. Ich fand das fast unfair den Leuten gegenüber, denen man auch gleich hätte sagen können, dass es die Tränen nicht wert ist. Dennoch habe The Night Watch sehr gerne gelesen und fand es eine gelungene Mischung aus Kriegsgeschichte fern der Front und Liebesgeschichte mit sehr viel Drama.
Sarah Waters: The Night Watch. Virago Press 2006. 506 Seiten. Der Roman ist in einer Übersetzung durch Andrea Voss unter dem Titel Die Frauen von London bei aufbau erschienen, ist derzeit aber nur antiquarisch zu bekommen.
Das Zitat stammt von S. 344
2006 war Sarah Waters mit diesem Roman für den Orange Prize for Fiction nominiert. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.