Susan Trinder wächst in den 1860ern in London auf. Sie lebt südlich der Themse, in der Lant Street, einer der düstersten und fiesesten Ecken der Stadt. Ihre Mutter ist als Mörderin gehängt worden, von ihrer Ziehmutter lernt sie vor allem Stehlen und Betteln.
Eines Tages taucht Mr Rivers in der dunklen Behausung auf und macht Susan ein verlockendes Angebot. Er hat ein Auge auf Maud Lilly geworfen, eine junge Dame aus gutem Haus, die eine Menge Geld erbt, wenn sie heiratet. Susan soll nun Zofe und Vertraute von Maud werden, letztere von einer Heirat mit Mr Rivers überzeugen und anschließend helfen, sie schnellstmöglich ins Irrenhaus zu bringen. Für sie selbst springt dabei ein ganz ordentlicher Anteil am Erbe raus, ordentlicher auf jeden Fall als alles, was sie sich in ihrem Leben erträumt hätte.
Ohne große Gewissensbisse macht Susan sich also auf nach Buckinghamshire, wo die naive und ahnungslose Maud Lilly zusammen mit ihrem wunderlichen Onkel im trostlosen, abgelegenen Haus Briar lebt, das seinen ehemaligen Glanz schon lange verloren hat. Das schüchterne Mädchen in Mr Rivers Arme zu treiben, verspricht ein leichtes Unterfangen zu werden.
„Does she nothing, poor girl, but read?“
Doch zu diesem Zeitpunkt ahnt Sue noch nicht, wie eng ihr eigenes Schicksal mit dem von Maud verbunden ist. Und auf einmal ist der ganze schöne Plan dahin und alles kommt ganz anders.
Wie anders kann man umöglich verraten, denn wenn man das schon weiß, muss man das Buch auch fast nicht mehr lesen. Ich muss zugeben, dass ich die Geschichte des Romans an sich gar nicht so besonders aufregend fand, allerdings bin ich auch einfach kein großer Fan historischer Romane. Was den Roman so besonders macht, ist die Art des Erzählens. Abwechselnd kommen Sue und Maud zu Wort und als Leserin weiß man zunächst nicht einen Hauch mehr als die jeweilige Erzählerin. Deshalb sind einige überraschende Wendungen auch wirklich überraschend – ohne diesen erzählerischen Kniff hätte ich, muss ich zugeben, das Buch vielleicht nicht zu Ende gelesen.
Ich behaupte aber, dass Fingersmith ein objektiv guter historischer Roman ist. Sarah Waters gelingt es, sowohl die bedrückende, beengte Atmosphäre des Londoner Boroughs einzufangen als auch die trostlose Abgelegenheit in Briar. Die Grausamkeiten der Londoner Kleinkriminellen untereinander, die Brutalität der Schwestern gegenüber den Insassinnen des Irrenhauses, die Hoffungslosigkeit der dort einsitzenden Frauen, die nur hoffen können, dass ihr Mann sie eines Tages doch noch rausholt – das alles schafft eine dunkle, kalte, beklemmende Atmosphäre den ganzen Roman hindurch. Hoffnung gibt es nicht viel zwischen diesen Buchdeckeln, dafür aber zwei sehr starke Mädchen, gerade sechzehn, die plötzlich um mehr kämpfen müssen, als sie geglaubt hätten und dabei ungeahnte Stärken und Qualitäten in sich entdecken. Und ja, es gibt auch ein bisschen Liebe, wenn auch an unerwarteten Stellen.
Sarah Waters: Fingersmith. Virago 2003. 548 Seiten, € 11,-. Originalausgabe Virago 2002. Deutsche Übersetzung: Solange du lügst. Übersetzt von Stefanie Retterbush. Krug & Schadenberg 2013. 713 Seiten, € 19,90.
Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.