Herr Oluf in Hunsum berichtet von etwas ganz Alltäglichem und eigentlich unerträglich Langweiligem: Ein Philosophen-Kongress in einem Tagungshotel in etwas abgeschiedener Lage direkt am Deich. Zu sehen gibt es Kollegen und Schafe, zu hören vor allem Selbstgefälliges. Dorthin reist Professor Oluf Sattler im Auftrag seines Instituts um in einem Vortrag die bisherigen Geldgeber davon zu überzeugen, weiterhin Geldgeber zu bleiben. Dass das keine gute Idee ist, lässt einen gleich der erste Satz des Romans wissen: „Du hättest nicht fahren dürfen!“ Die Anklage gegen den Hauptdarsteller ist damit eröffnet.
Die Tat, die ihm vorgeworfen wird: Obwohl Frau und Kleinkind hohes Fieber haben, fährt Oluf Sattler zum Kongress. Er wirft sich das vor und seine Frau ihm wohl auch, denn schon direkt nach seiner Abreise reagiert sie nicht mehr auf seine Anrufe. Irgendwann geht nicht einmal mehr der Anrufbeantworter dran. Oluf Sattler malt sich das Schlimmste aus. Sein verzweifelter Versuch, seiner Frau eine E-Mail zu schreiben, ist zum Scheitern verurteilt: um sich einzuloggen, soll er eine Sicherheitsfrage beantworten und alle Bilder mit Autos antippen. Der Professor, der sich seit Jahren nur noch mit Bildern und Abbildungen befasst, versteht die Gedanken hinter dieser Frage nicht: ist ein Auto ohne Kennzeichen, also ein stillgelegtes Auto, überhaupt noch als Auto zu werten? Was macht ein Auto zum Auto? Und wie würde eine Person, die sich solche Rätsel ausdenkt, wohl darüber denken? Er scheitert wieder und wieder, länger und länger kann er seiner Frau keine Nachricht zukommen lassen, denn sein völlig veraltetes Handy verschickt auch keine SMS mehr.
Sattlers Schuldgefühl wächst mit jedem zurückgelegten Kilometer und zugleich kommen Erinnerungen hoch an eine fast vergessene und noch viel größere Schuld. In Gesprächen mit einem fiktiven Psychotherapeuten arbeitet er dieses und das gegenwärtige Versagen auf.
„Bleiben wir bei ‚Schuld‘. Es geht mir lediglich darum, was dieser Begriff für Sie bedeutet. Und wenn Sie wissen wollen, weshalb ich das in Erfahrung bringen will, gestehe ich es Ihnen vorsichtshalber gleich: Ich glaube, dass alles ist komplizierter, als Sie es sich zugestehen wollen.“
Das also passiert in der Realität oder zumindest an ihrem Rand, aber es wäre kein Ecker-Roman, wenn nicht irgendwann auch Oluf Sattler die Grenzen des Realen mutig überschreiten würde. Nur eine falsche Abbiegung hinter Hunsum liegt eine albtraumhaft veränderte Welt, aus der kein Weg mehr zurück ins Familienleben führt. Dort stolpert Oluf erst auf ein Stadtfest und von dort direkt in einen Mordfall. Oder ist das alles gar nicht wahr?
Mit Professor Oluf Sattler hat Ecker keinen Sympathen geschaffen. Sattler lebt ausschließlich in seiner akademischen Welt, deren einziger Zweck es ist, über Kunst nachzudenken und über sie zu schreiben. Sattler gefällt sich in der Rolle des Intellektuellen und spart den Professoren-Titel nicht einmal bei der Ansage auf dem privaten Anrufbeantworter aus. Wenn ein Taxi-Fahrer eine beiläufige Bemerkung über Hagebutten-Tee macht, hält Sattler ein Stegreif-Referat über die Symbolik der Hagebutte in der abendländischen Kulturgeschichte. Zugleich hat er aber schon vor Jahren den Anschluss verpasst und hat keine Ahnung mehr, worum es in der modernen Philosophie – die er ohnehin als Modephilosophie abtut – überhaupt geht. Das hindert ihn nicht daran, ein enorm gutes Bild von sich und seiner Meinung zu haben und auf alle anderen mit süffisanter Boshaftigkeit herabzublicken, insbesondere auf die dummen Massen, die sich ständig selbst reproduzieren, weil ihnen außer Reproduktion überhaupt nichts einfällt.
Herr Oluf in Hunsum ist ein fieser und abgründiger Roman, der alles dafür tut, seine Leser*innen ins Dunkle zu führen und darüber im Unklaren zu lassen, was eigentlich los ist. Es ist eine vertrackte Geschichte mit mehreren Ebenen, die aneinander stoßen, sich aneinander reiben und ineinander verkeilen und man ist in ständiger Gefahr, dazwischen zu geraten. Der Roman ist aber vor allem auf unfassbar kluge Art sehr, sehr unterhaltsam und zugleich wahnsinnig tragisch und eigentlich tieftraurig. Irgendwo zwischen Menschenverachtung, Barbapapa und Universitätsbetrieb spielt sich hier eine ganz große Geschichte ab.
tl;dr: Brillanter Roman über Kunst, Philosophie und eine unerträglichen Menschen. Unglaublich witzig und wahnsinnig tragisch.
Christopher Ecker: Herr Oluf in Hunsum. Mitteldeutscher Verlag 2021. 232 Seiten.
Das Zitat in der Überschrift stammt von S. 85, das im Text von S. 89.
Beim Mitteldeutschen Verlag weiß man um meine Begeisterung für Ecker. Dieser Roman wurde mir als Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt, wofür ich herzlich danke.