Zwischen Freiheit und Verzweiflung – „Wir verlassenen Kinder“ von Lucia Leidenfrost

Nach und nach verlassen die Erwachsenen das Dorf irgendwo im äußersten Osten Europas. Selbst der Lehrer und der Pfarrer sind schon weg. Sie gehen in andere Städte, in andere Länder, in denen sich Geld verdienen lässt. Ihre Kinder können sie dabei nicht mitnehmen. Sie bleiben zurück, Großeltern und Nachbarn sollen künftig auf sie aufpassen. Von den Eltern kommen regelmäßig Briefe, Geschenke und vor allem das nicht einlösbare Versprechen, bald wieder da zu sein. Doch nach und nach verschwinden auch die Nachbarn, und die Großeltern werden immer gebrechlicher. Sie sind kaum noch in der Lage, auf die eigenen Enkelkinder aufzupassen, vom Rest der Meute ganz zu schweigen. Noch dazu droht ein Krieg. Immer öfter beobachten die Kinder „blecherne Vögel“, die donnernd über das Dorf fliegen und zum Glück erst an anderer Stelle angreifen.

Erzählt wird die Geschichte aus wechselnden Perspektiven, wobei „wir“ und Mila besonders viel Raum einnehmen. Mila ist die älteste Tochter des Bürgermeisters, einem der letzten Erwachsenen im Dorf, und als einziges Kind nicht Teil von „wir“. Als einzige hat sie auch einen Schlüssel zur Schule, den sie ihrem Vater gestohlen hat und den sie hütet wie einen Schatz. Stundenlang kann sie sich dort in der Bibliothek verstecken. Aber sie schreckt auch nicht davor zurück, sich ohne Schlüssel Zugang zu verlassenen Häusern zu verschaffen und die aufgegebenen Schränke und Schubladen nach Brauchbarem zu durchsuchen. „Wir“, das ist der Rest der Kinder, darunter auch Milas Schwestern, die als unzertrennliche Meute durch das Dorf und seine Umgebung ziehen. Sie haben eigene Regeln aufgestellt und erlassen mitunter drakonische Strafen, wenn diese gebrochen werden. Wer einem von ihnen schadet, schadet allen. Sie begreifen sich als einen großen Organismus und sprechen auch als solcher. Nur selten kommen auch andere zu Wort. Erwachsene, die vor sich selbst versuchen zu rechtfertigen, dass sie ihre Kinder im Stich gelassen haben, die sich sorgen und sich fragen, warum auf ihre Briefe kaum eine Antwort kommt.

„Wir waren einmal echte Kinder. Jetzt stapeln wir Holz in unsere Öfen, suchen nach kleinen Holzstücken und Papier.“

Die Stimmung in Wir verlassenen Kinder ist so düster, wie der Titel es eigentlich schon vermuten lässt. Den ganzen Roman über herrscht ein Gefühl der Unsicherheit. Auf vieles, was passiert, können die Kinder sich nicht so recht einen Reim machen. So bleibt einiges völlig unklar, wie beispielsweise die Frage nach dem kriegerischen Konflikt, der irgendwo in der Nähe eskaliert. Wie real und nah diese Bedrohung ist, kann man kaum beurteilen. Die Kinder fühlen sich von ihren Eltern im Stich gelassen. Dass diese selbst genauso unter der Situation leiden, wissen ihre Kinder nicht und können es sich auch nicht vorstellen. Mila, die als einzige noch einen Vater im Dorf hat, fürchtet seine Launen und seine Ausbrüche. Seit dem Tod der Mutter sieht sie eine Spinne in seinem Nacken sitzen, die wächst, und nach ihm greift und seine Stimmung gefährlich werden lässt. Zuspruch erfährt sie selten von ihrem Vater, auch wenn er offenbar genau weiß, was er an seiner ältesten Tochter hat, die sich früh auch um die mutterlosen Schwestern gekümmert hat. Der Umgang der Kinder miteinander ist meistens rau und lieblos. Das „wir“ zählt mehr als individuelle Freundschaften und Loyalitäten und so werden diese immer seltener.

Stilistisch ist der Roman recht einfach gehalten, in klaren, unverschnörkelten Sätzen. Das Besondere an Wir verlassenen Kinder sind die wechselnden Perspektiven und eben auch die kindliche Sichtweise, die einiges einfacher und anderes völlig unverständlich erscheinen lässt. Nicht bei allen Episoden kann man sich sofort sicher sein, ob sie real sind oder einer überbordenden kindlichen Fantasie entsprungen sind.

Zerrissene Familien, in denen die Eltern im Ausland arbeiten müssen und die Kinder bei anderen Verwandten unterbringen, sind in einigen Teilen Europas leider ein verbreitetes Phänomen. Leidenfrost treibt diesen Umstand in ihrem Debüt-Roman auf die Spitze und streicht auch noch die letzten Kontroll-Instanzen aus dem sozialen Konstrukt. So sehr die Kinder auch an Macht gewinnen und so grausam sie dabei werden, so bleiben sie dabei doch immer vor allem Opfer ihrer Haltlosigkeit. Ein gelungenes und spannend zu lesendes Gedankenexperiment.


tl;dr: In Leidenfrosts Debüt-Roman verlassen nach und nach alle Erwachsenen ein kleines Dorf, darauf bauend, dass sich schon irgendjemand um ihre Kinder kümmern wird. Schnell bröckelt das soziale Konstrukt und die Kinder gründen ihre eigene Gesellschaft mit ganz eigenen Regeln.


Lucia Leidenfrost: Wir verlassenen Kinder. Kremayr & Scheriau 2020. 192 Seiten.

Das Zitat stammt von S. 8.

Leidenfrost steht mit diesem Roman auf der Shortlist für den Blogger*innen-Preis Das Debüt 2020.