Die verstoßene Kreatur – „Frankenstein“ von Mary Wollstonecraft Shelley

1818 erstmals veröffentlicht, hat Frankenstein zweihundert Jahre später den Ruf, ein Meilenstein der Literaturgeschichte zu sein und eines der ersten Werke des Genres, das man heute als Science Fiction bezeichnet. Die Geschichte ist zu einem Inbegriff für Selbstüberschätzung und fehlende Verantwortung in der Wissenschaft geworden.

Erzählt wird der Roman von einem Kapitän, der mit seinem Schiff unweit des Nordpols von Eis eingeschlossen festsitzt. Eines Tages entdeckt die Mannschaft ein merkwürdiges, hünenhaftes Wesen, das auf einem Schlitten über das Eis rast, hunderte Kilometer von jeder Siedlung entfernt. Nur wenig später gabeln die Matrosen einen weiteren Mann auf, der in verzweifelter Lage auf einer Eisscholle dahin treibt. Er kommt, völlig am Ende seiner Kräfte, an Bord und berichtet, wie er in die missliche Lage kommen konnte.

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Der Gerettete ist natürlich niemand anders als Victor Frankenstein, der als junger Mann von Genf nach Ingolstadt zog, um Naturwissenschaften zu studieren. Beflügelt von ersten Erfolgen und dem Lob der Professoren, erschafft er eine Kreatur, die einem Menschen gleicht, doch viel größer und kräftiger ist. Erschreckt von seiner eigenen Schöpfung flieht der junge Frankenstein aus seinem Studierzimmer und findet es, als er am nächsten Morgen zaghaft zurückkehrt, leer vor. Die Kreatur ist verschwunden und er glaubt, damit sei die Sache ausgestanden. Doch weit gefehlt.

Die namenlose Kreatur irrt in der Welt herum, verzweifelt bemüht, den Anschluss an Menschen zu finden. Doch wie immer er auftaucht, ruft das Monster Angst und Schrecken hervor und wird verjagt. Indem das Monster eine Familie heimlich beobachtet, lernt es zu sprechen und wie sich Menschen untereinander verhalten. Doch als er sich den vermeintlichen Freunden offenbart, wird er erneut angegriffen und verjagt. Frustriert beschließt das Monster, seinen Schöpfer ausfindig zu machen und ihn in die Verantwortung zu nehmen. Er verlangt eine Frau, erschaffen wie er, mit der er in den leeren Weiten Südamerikas leben will. Solange er seinen Willen nicht hat, wird er Frankensteins Leben zur Hölle machen.

„You are my creator, but I am your master; obey!“

Wer hinter Frankenstein einen gruseligen Horror-Roman erwartet, wird leider enttäuscht. Entstanden ist die Idee des Romans natürlich als Gruselgeschichte in einem legendären Sommer am Genfer See, in den letzten beiden Jahrhunderten haben sich die Horror-Grenzen aber offenbar weit verschoben. Und ich kann nun wirklich nichts ab. Wenn ich es nicht gruselig finde, können es auch Achtjährige lesen.

Frankensteins Monster ist natürlich brutal und unnachgiebig in der Durchsetzung seines Willens. Auch das Auftreten der Kreatur, mit wilden Haaren, schwarz verfärbten Lippen und mumienhaften Händen, gibt wenig Anlass zu spontaner Sympathie. Zugleich aber ist das Monster von seltener Eloquenz und Selbstreflexion. Beides demonstriert es eindrucksvoll in langen Monologen. Nun darf man von einer Gruselgeschichte keinen Realismus erwarten, aber dass das Monster allein durch das Beobachten von menschlicher Sprache und Verhalten diese Fähigkeiten erworben hat, scheint doch unwahrscheinlich zu sein. Auch ist sein Lernverhalten wenig schlüssig. Während es Vögel mangels der richtigen Vokabel nur als „Tiere mit Flügeln“ bezeichnen kann, benennt und unterscheidet es mühelos Drosseln, Amseln und Meisen. Und da endet die lückenhafte Faktenlage noch nicht. Als Frankenstein eingeschüchtert versucht, eine Gefährtin für sein Monster zu schaffen, versenkt er das Experiment schließlich im Meer aus Angst, die beiden könnten sich fortpflanzen. Nun wundert es einen erstens, dass Frankenstein gleich bei seinem ersten Versuch anatomisch so korrekt blieb, dass sein Geschöpf fortpflanzungsfähig ist (was kompliziert klingt) und dann fragt man sich ja auch, warum er bei seiner potenziellen Gefährtin nicht einfach die Gebärmutter weglässt. Für mich als Laiin klingt das erstmal einfacher, als eine einzubauen.

Aber wie gesagt: um Logik darf es in einer Geschichte dieser Art ja eigentlich gar nicht gehen. Trotzdem ist der Roman reichlich sperrig und nicht immer so leicht zugänglich, wie man es vielleicht erwarten würde. Die Erzählebenen sind mehrfach ineinander verschachtelt, wohl auch um das Unglaubliche der Geschichte zu betonen. Dadurch aber gibt es eben überhaupt keine direkte Handlung sondern nur mittelbare Erzählungen davon. Im Kontext seiner Zeit funktioniert der Roman natürlich ganz hervorragend. Shelley greift darin aktuelle Themen auf, allen voran die Skepsis gegenüber dem technischen Fortschritt und der bangen Frage, was damit möglich würde, aber auch die Forderung nach einem verantwortungsvollen Umgang damit. Und natürlich darf man bei all dem auch nicht außer Acht lassen, dass Shelley wirklich sehr jung war, als sie sich an dieses Thema wagte und trotzdem einen Meilenstein der Literaturgeschichte hinterlassen hat.


tl;dr: Frankenstein ist nach heutigen Maßstäben überhaupt nicht mehr gruselig und, aufgrund verschiedener Längen, auch nicht sehr spannend. Unumstritten ist der Roman aber als Meilenstein der Literaturgeschichte unverzichtbar für alle, die sich auch nur im Ansatz für Horror- und SciFi-Romane interessieren.


Mary Wollstonecraft Shelley: Frankenstein. Gelesen in der Ausgabe divibib, ekz Bibliotheksservice, 166 Seiten. Eine englischsprachige Ausgabe, die den 1818 erschienen Originaltext wiedergibt, ist bei Penguin Classics lieferbar. Es gibt verschiedene deutsche Übersetzungen, eine komplette Neuübersetzung von Alexander Pechmann ist 2017 bei Manesse erschienen.

Das Zitat stammt von S. 105.

7 Gedanken zu “Die verstoßene Kreatur – „Frankenstein“ von Mary Wollstonecraft Shelley”

  1. Ich liebe „Frankenstein“. Ich hatte damals die Penguin-Classics-Ausgabe gelesen. Das englische Original transportiert die Atmosphäre vermutlich sehr viel besser als deutschsprachige Übersetzungen. Es ist kein Horror, aber im besten Sinne Gothic, gepaart mit philosophischen Aspekten.

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    1. Ich sehe absolut, warum man das Buch mögen kann (und vielleicht sogar sollte?). Objektiv finde ich auch sowohl das Thema, als auch das Drumherum und die Entstehungsgeschichte total spannend. Und die Autorin auch. Subjektiv kam ich in den Roman einfach nicht rein und hatte passagenweise echt damit zu kämpfen.
      Auf Deutsch habe ich es nie gelesen, aber vor Jahren mal eine Hörspielbearbeitung gehört. Die allerdings fand ich atmosphärisch sehr gelungen. Ich glaube aber, dass die gekürzt war und große Teile der Reise nach England/Schottland gefehlt haben, zumindest kann ich mich nicht an sie erinnern.

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  2. Als ambitionierte Teenager-Leserin wollte ich es ja einst unbedingt mit den Schauerklassikern der Literatur aufnehmen und scheiterte gnadenlos an der Langatmigkeit von Frankenstein. Ich meine ich probierte es auch noch mit Dracula aber aaaach, alles vom ähnlichen Schlag. Neulich habe ich mir die mal als englischsprachige Hörbücher gegeben und die hatten deutlich mehr Charme. Und wenn man sie alle zusammen hört (Jekyll & Hyde war auch noch dabei), dann lassen sich da eigentlich sehr schöne Parallelen feststellen über das Monster im Menschen und was die Autoren der drei Klassiker da auf die „angeblichen“ Monster projiziert haben. Eigentlich ganz reizvoll …

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    1. Das stimmt, das ist sicher ein sehr spannender Vergleich. Als Teenager hatte ich auch mal eine Phase, in der ich ganz viele „Horror“- und Schauerromane gelesen habe. Extra ambitioniert auch Dracula auf Englisch. Zumindest 20 Seiten lang, da habe ich dann aufgegeben. Vielleicht verdient auch das einen zweiten Anlauf…

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      1. Haha – grandios. XD Meine Liaison mit Dracula als Teenager war ähnlich kurz. Und dabei nicht mal auf Englisch :‘) Stadtdessen fand ich damals zu Stephen King … an ern ich heute wiederum nur bedingt rankomme. Die hatten damals recht, Geschmäcker ändern sich. Aber ich sags ihnen nicht, sonst wissen sie, dass sie recht haben …

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