Mit den Augen einer Außerirdischen – „Das Seidenraupenzimmer“ von Sayaka Murata

Natsuki hat einen großen Auftrag auf dieser Erde. Von ihrem Freund Pyut, der für alle anderen wie ein normales Stofftier wirkt, weiß sie, dass sie von einem fremden Planeten namens Pohapipinpopopia stammt und als „Magical Girl“ die Erde retten muss. Der einzige, der ihr Anliegen versteht, ist ihr Cousin Yu, ebenfalls ein Außerirdischer. Leider sehen die beiden sich aber nur einmal jährlich, wenn sie zum Ahnenfest Obon bei der Großmutter sind. Doch dort schließen sie einen Pakt: in einer Art Eheversprechen geloben sie einander, immer bis zum nächsten Jahr zu überleben. Das allein hält Natsuki am Leben.

„Der Eid, den Yu und ich uns geschworen hatten, hatte sich mir tief eingeprägt. Ich musste so lange wie möglich überleben. Ob wir irgendwann einfach sein könnten, ohne immerzu ums Überleben zu kämpfen?“

Denn zu Hause hat sie es alles andere als leicht. Von ihrer Familie wird sie abgelehnt, und insbesondere von ihrer Mutter und Schwester erfährt sie körperliche wie psychische Gewalt. Freundliche Zuwendung findet sie fast ausschließlich bei einem Lehrer, doch die Aufmerksamkeit wird ihr schnell unangenehm, als sie immer mehr zu ungewollter körperlicher Nähe wird. Als Natsuki allen Mut zusammennimmt und sich ihrer Mutter offenbart, glaubt sie ihr nicht. Schließlich vergewaltigt der Lehrer Natsuki, deren Körper darauf mit dem völligen Verlust ihres Geschmackssinns reagiert.

Weiterlesen

Die verstoßene Kreatur – „Frankenstein“ von Mary Wollstonecraft Shelley

1818 erstmals veröffentlicht, hat Frankenstein zweihundert Jahre später den Ruf, ein Meilenstein der Literaturgeschichte zu sein und eines der ersten Werke des Genres, das man heute als Science Fiction bezeichnet. Die Geschichte ist zu einem Inbegriff für Selbstüberschätzung und fehlende Verantwortung in der Wissenschaft geworden.

Erzählt wird der Roman von einem Kapitän, der mit seinem Schiff unweit des Nordpols von Eis eingeschlossen festsitzt. Eines Tages entdeckt die Mannschaft ein merkwürdiges, hünenhaftes Wesen, das auf einem Schlitten über das Eis rast, hunderte Kilometer von jeder Siedlung entfernt. Nur wenig später gabeln die Matrosen einen weiteren Mann auf, der in verzweifelter Lage auf einer Eisscholle dahin treibt. Er kommt, völlig am Ende seiner Kräfte, an Bord und berichtet, wie er in die missliche Lage kommen konnte.

Weiterlesen

Austen im Funkloch – Val McDermids „Northanger Abbey“

Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass Austen-Zitate sich größter Beliebtheit erfreuen, gerne auch als ganzer Roman. Pride and Prejudice and Zombies habe ich vor einiger Zeit mit großer Freude gelesen und mich nun auch an einen Teil des Austen-Projekts gewagt. Im Rahmen dieses Projekts wurden Austens Romane neu erzählt und dabei auch in die moderne Zeit verlegt. Ich habe bisher keines der Bücher gelesen, weil ich sehr skeptisch war – wenn man aus Austen die Empire-Kleider, die komplexen gesellschaftlichen Regeln und jedes „most ardently“, „ever so slightly“ und „oh but you must forgive me“ streicht, was bleibt denn dann? Im besten Fall „Clueless“, im schlimmsten Fall eine ziemlich dünne Story.

McDermid_NorthangerAbbeyHB

Nun gab es aber beim von mir abonnierten Streaming-Dienst die Hörbuch-Version von Val McDermids Nacherzählung von Northanger Abbey. Vor mir lag eine lange und langweilige Zugfahrt und da erschien mir diese Geschichte, die ich als ganz witzig und spannend in Erinnerung hatte, als gute Option. Und die Krimiautorin Val McDermid konnte ich mir auch als gute Neuerzählerin vorstellen.

Weiterlesen

Matt Ruff: Lovecraft Country

H.P. Lovecraft ist heute vor allem als genreprägender Autor von Horroliteratur bekannt. Besonders sein Cthulhu-Mythos hat Kultstatus erlangt, aber auch die Erforschung geheimen Wissens ist ein wiederkehrendes Motiv seines Werks. Ebenso wie Rassismus – wenn Lovecrafts Verteidiger auch betonen, dass dieser eher kulturell als hardline biologisch determiniert gewesen sei, sind einige seiner Äußerungen halt schon hart. Der Begriff „Lovecraft Country“ bezeichnet ein Gebiet in Massachusetts, bestehend aus realen und fiktiven Orten, in denen Lovecraft seinen Cthulhu-Mythos ansiedelte und in dem auch die meisten darauf aufbauenden Werke anderer AutorInnen spielen.

20180508_145526.jpg

In dieses Gebiet verschlägt es nun Atticus, seinen Onkel George und seine Freundin Letitia. Die drei sind auf wichtiger Mission, denn sie suchen Atticus Vater Montrose, der auf der Suche nach familiären Verbindungen einem geheimnisvollen Fremden in diese Gegend gefolgt sein soll. Die Reise ist für die drei besonders gefährlich, denn sie sind schwarz und die Geschichte spielt in den 1950ern, als die Jim Crow Laws noch in voller Blüte standen. Schwarze dürfen nicht in allen Hotels übernachten, werden in kaum einem Restaurant bedient und eine simple Reifenpanne kann ein großes Problem werden, wenn weit und breit keine Werkstatt bereit ist zu helfen. Immerhin ist mit George eine gewisse Expertise an Bord. Er ist der Herausgeber eines Reiseführers mit sicheren Adressen für Schwarze, dem Safe Negro Travel Guide – erschreckenderweise musste es dieses Buch tatsächlich bis in 1960er geben, allerdings unter dem Titel The Negro Motorist Green Book. Doch trotz seines Wissens gerät die Reise zu einem höchst gefährlichen Roadtrip und nur mit Müh und Not schaffen sie es in das abgelegene Dorf, in dem sie Montrose vermuten. Doch das ist erst der Anfang. Denn kaum ausgestiegen finden sie sich in den Fängen eines rassistischen Geheimordens, der in Atticus den Hüter magischer Fähigkeiten vermutet. Plötzlich ist die ganze Familie verwickelt in eine uralte, hochkomplexe und noch dazu sehr riskante Logen-Fehde.

Weiterlesen

Heinz Helle: Eigentlich müssten wir tanzen

Fünf Männer verbringen das Wochenende auf einem Berg. Sie kennen sich seit Kindertagen, heute sind sie erfolgreiche Architekten, Anlageberater, P1-VIPs. Einmal im Jahr fahren sie zusammen auf eine Hütte in den Bergen und versuchen, an die glorreichen alten Zeiten anzuknüpfen. Dass sie nicht mehr so eng sind wie früher, weniger trinkfest, verkrampfter im Umgang miteinander, ist ihnen allen klar, aber sie fahren halt doch. Am letzten Morgen brennt das Dorf unter ihnen im Tal. Als sie unten sind stellen sie fest: nicht nur das Dorf brennt, sondern die ganze Welt. Zumindest der Teil, den sie überblicken können. Während sie oben waren, hat unten etwas oder jemand schrecklich gewütet. Ausgebrannte Autos, verendete Tiere, aufgedunsene Leichen am Seeufer.

Helle_EigentlichMuesstenWirTanzen-2.jpg

Der Roman ist nicht lang, aber so dicht und atmosphärisch, dass es in Teilen an Horror grenzt. Ich habe Albträume bekommen von diesem Buch. Die Männer quälen sich durch das verschneite Alpenvorland, ohne zu wissen, was passiert ist, ob auch eine Gefahr für sie besteht, vor allem aber ohne irgendeine Ahnung, ob die Zerstörung irgendwo endet, ob am Ende nicht die ganze Welt in Schutt und Asche liegt. Ob es nicht besser ist, sich einfach gleich umzubringen.

Weiterlesen

Christopher Ecker: Andere Häfen

Als vor einigen Monaten der Mitteldeutsche Verlag ankündigte, im Herbst einen Band mit Erzählungen von Christopher Ecker zu veröffentlichen, war ich zumindest skeptisch. 87 Kurzgeschichten auf guten 200 Seiten? Klingt hart. Ist auch hart. Mein Lieblingsbuch von Christopher Ecker (und eines meiner Lieblingsbücher überhaupt) ist der über 1000 Seiten dicke Fahlmann und Ecker wäre nicht der erste Autor, der fantastische Romane aber gnadenlos blöde Kurzgeschichten schreibt. Nicht selten hört man ja, die wahre Qualität eines Autors ließe sich an den „Kleinen Formen“ messen.

ecker_anderehaefen

Ecker würde diese Qualitätsprüfung problemlos bestehen. Die Texte in diesem Buch unter einem Begriff zu subsumieren, ist eigentlich nicht möglich. Ich hatte gehofft, der Verlag würde „Kurzgeschichten“ unter den Titel schreiben oder „Erzählungen“. Hat er aber nicht. Kurze Texte sind es also. Einige dieser kurzen Texte sind wirklich klassische Kurzgeschichten, sowohl in Aufbau und Länge. Einige der Texte sind extrem kurz und bringen es kaum auf eine Seite, sind also eher Microfiction. In manchen Texten passiert auch so wenig, dass es eher Bilder als Erzählungen sind, vielleicht sogar Vignetten. Zum Glück kann Ecker so gut schreiben, dass die paar Sätze ausreichen, um Szenerien und Charaktere zu erschaffen, um Absurdität und Hoffnungslosigkeit auszudrücken. In vielen Texten ist es dann auch das Ausgelassene, das nicht Gesagte, was einen kalt erwischt und völlig umhaut.

Weiterlesen

Kirsten Bakis: Lives of the Monster Dogs

2009, noch in weiter Zukunft, als Bakis über die Monsterhunde schrieb, tauchen in New York verstörende Kreaturen auf. Sie haben Hundeköpfe und Menschenhände, gehen auf zwei Beinen und können sprechen. Sie tragen wallende Kleider und Uniformen, wie man sie seit 100 Jahren nicht gesehen hat. Sie sind das endlich geglückte Experiment, das Augustus Rank Ende des 19. Jahrhunderts begonnen hatte, als er eine absolut loyale Armee erschaffen wollte, deren Verluste leicht ausgleichbar wären. Nun sind sie ihren Erschaffern entkommen und ziehen im Rudel nach New York, sagenhaft reich und zumindest auf den ersten Blick deutlich friedlicher, als Rank sich das mal gedacht hatte.

„No human loyalty can equal the fanatic devotion of a dog.“

Durch einen Zufall wird Cleo ihre Vertraute und Pressefrau. Die Hunde gewähren ihr Einblicke in ihre Welt, laden sie zum Essen ein und einige werden sogar ihre Freunde. Cleo ist es auch, die jetzt über die unvergessliche Zeit berichtet, die sie mit den Monsterhunden verbracht hat.

Der Rahmen des Romans ist schon ein recht absurder und man muss das natürlich einfach als Science Fiction akzeptieren. Der übrige SciFi-Anteil hält sich allerdings in Grenzen, bis auf Hüte aus Metall und Laserpistolen im Handtaschenformat, welche die meisten Frauen stets bei sich tragen. Und es gibt keine Handys. New York 2009 und Cleo muss von öffentlichen Münzfernsprechern aus telefonieren, wenn sie unterwegs ist. Ich finde das immer spannend, dass alle AutorInnen sich vor 20 Jahren vorstellen konnten, dass wir mit einem dicken Waffenarsenal durch die Gegend laufen, aber nicht, dass wir Mobiltelefone besitzen.

Weiterlesen