Zerfallende Erinnerung – „The Wilderness“ von Samantha Harvey

In seiner Blütezeit war Jake ein erfolgreicher Architekt. Er war besessen von der Idee, in seiner alten Heimat Lincolnshire das lichtdurchflutete Haus seiner Träume ins dunkle Moor zu stellen. Inspiriert von einer Voliere im Londoner Zoo sollte es ganz aus Glas sein und aussehen, als käme es mitten aus dem Moor. Mit dem Versprechen eines Kirschbaum-Idylls hinter dem Haus gelingt es ihm, seine Frau Helen auch von der Genialität seines Plans zu überzeugen. Sie verlassen London und ziehen nach Lincolnshire, wo sie zwei Kinder bekommen und ihre Ehe ruinieren.

Viele Jahre später lebt Jake als Witwer, sein Sohn ist im Gefängnis – immerhin einem, das Jake entworfen hat – und einem Gedächtnis, das ihn immer mehr im Stich lässt. Alzheimer, sagt die Frau mit den roten Haaren, die er regelmäßig trifft und deren Namen er sich nicht merken kann. Sie verlangt von ihm, dass er Wortreihen lernt und behält, Uhren malt und Zeitstränge. Seine Misserfolge frustrieren Jake. Dagegen hilft, wie schon seit Jahren, mindestens ein Mint Julep am Tag, die er in Rekordzeit runterstürzen kann. An seiner Seite ist Eleanor, eine Jugendfreundin, die seit Ewigkeiten in ihn verliebt ist und die jetzt endlich mit ihm leben kann, ihn umsorgen und ihm helfen kann. Jetzt, da er jeden Tag ein bisschen mehr verschwindet. Jetzt, da er sich fast jeden Tag wundert, wer die nette Frau ist, die sein Essen kocht, seine Wäsche sortiert und ihn zu der anderen Frau mit den roten Haaren begleitet.

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Essen aus Büchern: Schottische Eier aus Jess Kidds „Heilige und andere Tote“

Schottische Eier sind ein Kleinod der britischen Küche und erfreuen sich auf der Insel großer Beliebtheit, auch als fertiger Snack aus dem Supermarkt. Bekannt sind sie dort als Scotch Eggs und ob das wirklich was mit Schottland zu tun hat, ist zumindest fraglich. Sowohl „scotching“ als Verb mit diversen Bedeutungen ist als möglicher Namensgeber im Gespräch, ebenso wie eine Firma namens Scott, die ein beliebtes Produkt im Sortiment hatte, dass den heutigen Scotch Eggs sehr ähnlich ist.

Woher auch immer der Name kommt: Schottische Eier im heutigen Sinne sind wachsweich gekochte Eier in einer Hülle aus Wurstbrät, die paniert und frittiert werden – letzteres wiederum lässt eine schottische Herkunft wahrscheinlich erscheinen. In Heilige und andere Tote ist diese Ikone der Snack-Kultur ein Teil einer Mahlzeit, die Sozialarbeiterin Maud ihrem Klienten Cathal Flood zum Tee serviert. Gedacht ist diese Mahlzeit als mögliche Annäherung zwischen Cathal und seinem Sohn Gabriel, zu dem er schon lange keinen Kontakt mehr hat und haben will. Gabriel sitzt noch nicht mal, als der zaghafte Annäherungsversuch schon scheitert:

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Ein seltener Fund – „The Mermaid and Mrs. Hancock“ von Imogen Hermes Gowar

Es ist ein ungeheurer Fund, den Kapitän Jones seinem Arbeitgeber Jonah Hancock präsentiert. Eine echte Meerjungfrau hat er von seiner letzten Reise mitgebracht! Leider war die so teuer, dass er dafür das Schiff versetzen musste, eines der besten in Hancocks Flotte. Jones ist sich allerdings sicher, dass eine echte Meerjungfrau besser ist als jedes Schiff der Welt. Doch die Kreatur, die er mit großem Gewese auspackt, ist nicht, was Hancock sich erwartet hätte. Statt einer betörenden Sirene liegt vor ihm auf dem Tisch eine groteske Kreatur, die aussieht, als hätte jemand einen Affen und einen Fisch zusammengenäht. Aber was soll er nun noch tun? Das Schiff ist nun mal weg und so entschließt er sich, mit der Meerjungfrau zumindest ein wenig Geld zu verdienen.

Zusammengebastelte „Meerjungfrauen“, die Reisende von exotischen Orten mitbrachten, waren eine Zeitlang der letzte Schrei und durften in keinem gutsortierten Kuriositätenkabinett fehlen. Das in diesem Video gezeigte Exemplar wurde auf einer Japanreise erworben und landete unter dem Namen „Fiji Mermaid“ in der berühmten Sammlung von P. T. Barnum.

Jonah Hancock ist ein gesetzter Mann. Nach dem frühen Tod seiner Frau leben nur noch seine Nicht Sukie und eine Angestellte mit ihm im Haushalt. Er betreibt Handel mit Übersee und vermietet einige bescheidene Quartiere – gerade genug für ein bequemes Leben ohne großen Trubel. Das ändert sich schlagartig, als er seine Meerjungfrau in einem Londoner Kaffeehaus ausstellt und die halbseidene Mrs. Chappell darauf aufmerksam wird. Sie ist Zuhälterin für die ganz noble Gesellschaft und immer auf der Suche nach einer Attraktion für ihre betuchte Kundschaft. Über sie lernt Hancock die Highclass-Kurtisane Angelica kennen und verliebt sich Hals über Kopf in sie. Und sie verspricht ihm sogar ihre Liebe. Unter einer kleinen Bedingung: Sie will ihre eigene Meerjungfrau haben. Ein unmögliches Unterfangen, das ist Hancock und auch Angelica klar. Dennoch startet Hancock einen neuen Versuch.

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Im Schatten des Barden – „Hamnet“ von Maggie O’Farrell

Hamnet ist uns, dem Namen nach zumindest, allen wohlbekannt. Als Prinz von Dänemark hat sein Vater ihm einen ewigen Platz in der Literaturgeschichte geschaffen. Der berühmte Vater aber spielt in diesem Roman kaum eine Rolle. Zu Beginn und als junger Mann ist er noch präsent, aber dann werden seine Aufenthalte in London länger und länger, die Besuche in Stratford immer seltener. Viel mehr ist es seine Frau, im Nachlass ihres Vater als Agnes Hathaway benannt, die ausnahmsweise mal im Scheinwerferlicht steht. Ihr weltberühmter Mann wird nicht einmal namentlich erwähnt. 26 Jahre alt ist Agnes, schön, geheimnisvoll und mit beinahe magischen Fähigkeiten beschenkt, als sie sich in den gerade achtzehnjährigen Lateinlehrer ihrer Halbbrüder verliebt. Für den Vater des Lateinlehrers, einen in finanzielle Schieflage geratenen Handschuhmacher, kommt sie gerade recht. Immerhin bringt sie ein nicht unansehnliches Erbe mit. Was mit hinter ihrem Rücken über sie sagt, ist da erstmal zweitrangig, ebenso wie ihr für eine erste Ehe ziemlich hohes Alter.

„What a way out it would be for the boy, she heard a woman at the market whisper, behind her back. You can see why he’d want to marry into money and get away from the father.“

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Riskantes Mietverhältnis – „The Paying Guests“ von Sarah Waters

Kurz nach Ende des Krieges ist die Lage von Frances Wray und ihrer Mutter verzweifelt. Beide Söhne der Familie sind gefallen, der Vater ist ebenfalls verstorben, noch dazu mit einem Berg Schulden. Das große Stadthaus in einem Londoner Vorort ist teuer und zeitaufwendig im Unterhalt, an eine Dienerschaft ist gar nicht mehr zu denken. Schließlich entschließen die beiden Frauen sich, einige Räume an das junge Ehepaar Lilian und Leonard Baber zu vermieten, um ihre Schulden abtragen zu können. Das soziale Umfeld, ohnehin schon entrüstet, weil bei Wrays selber geputzt wird, bezeichnet die Untermieter lieber als „zahlende Gäste“, das riecht weniger nach sozialem Abstieg.

„One good thing about them being so young: they’ve only his parents to compare us with. They don’t know that we really haven’t a clue what we’re doing. So long as we act the part of the landladies with enough gusto, then landladies is what we we’ll be.“

Zu Beginn tun die Wrays sich schwer mit den neuen Mitbewohnern. Frances ist brüskiert von Leonards jovialer Art, während ihre Mutter entrüstet bemerkt, wie lange Lilian schläft und wie oft sie badet. Zunächst bleiben die beiden auf Distanz, nur gelegentliche Blicke ins Wohnzimmer und das Zusammentreffen in der Küche geben einen Eindruck vom Leben der anderen. Und diese Leben könnten auf den ersten Blick verschiedener kaum sein: während Frances sich mit Ende 20 schon zum alten Eisen zählt und sich mit ihrer Rolle als Haushälterin abgefunden hat, wirkt Lilian viel unbeschwerter und jünger, obwohl sie es in Jahren kaum ist. Einzig ihre Ehe mit Leonard scheint nicht immer einfach zu sein. Das verrät sie Frances schnell, nachdem zarte Freundschafts-Bande zwischen den beiden entstehen.

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Essen aus Büchern: Shepherd’s Pie aus Sarah Waters „The Night Watch“

Die Beziehung von Julia und Helen in Sarah Waters The Night Watch steht unter ständiger Spannung. Das liegt nicht nur daran, dass die beiden in den 1940er-Jahren leben und ihre homosexuelle Beziehung unter allen Umständen geheim halten müssen, sondern auch ganz maßgeblich an Helens Eifersucht. Sie ist die häuslichere, zurückhaltendere der beiden und lebt in ständiger Sorge, dass die leuchtende, schöne, talentierte Julia einfach geht. Dass sie eine bessere Partnerin findet und ihre Sachen packt.

So ist es auch an diesem Abend, an dem Helen in eine leere Wohnung zurückkommt. Panisch öffnet sie die Schränke, um zu sehen, ob Julias Kleidung, ihre Koffer, ihr Schmuck noch da sind. Alle ist an seinem Platz, aber wo ist Julia? Warum hat sie keine Notiz hinterlassen, und mit wem ist sie überhaupt unterwegs? Um ihre Sorgen in den Griff zu kriegen, beschließt Helen, schonmal das Abendessen vorzubereiten:

„She gathered together the ingredients for a shepherd’s pie. She said to herself that by the time the pie had gone into the oven, Julia would be home.“

S. 142
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Essen aus Büchern: Lemon Meringue Pie aus Carol Shields‘ „Larry’s Party“

Larry’s Party, der Roman um den Irrgartenbauer Larry Weller, tauchte bei „Essen aus Büchern“ schon mit einem Lancashire Hotpot auf. Den hat er, wie auch das heutige Essen, seiner Mutter Dot zu verdanken, die für ihren Sohn keine Mühe scheut:

She’s a housewife, Larry’s mother, a maker of custard sauce, a knitter of scarves, a fervent keeper of baby pictures and family scrapbooks, but this is her real work: sorrowing, remembering.“

S. 45

An seinem dreißigsten Geburtstag steht Larry bei Dot in der Küche herum, hält sich an seinem Bier fest und versucht, das alles irgendwie durchzustehen. Natürlich hat seine Mutter ihm auch einen Kuchen gebacken. Aber nicht irgendeinen schnöden Rührkuchen, sondern eine Zitronen-Baiser-Tarte, den Lieblingskuchen ihres Sohns. Den bereitet sie natürlich nicht vor, sondern macht ihm frisch am gleichen Tag – seitdem sie ihre Schwiegermutter versehentlich mit verdorbenen Bohnen umgebracht hat, trägt sie ständige Angst um das Essen, das sie ihrer Familie serviert:

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Mörderische Geheimnisse – „Heilige und andere Tote“ von Jess Kidd

Cathal Flood macht es sich und anderen nicht leicht. Ein Mann von beeindruckender Statur und – wenn er will – charmantem Auftreten war er einst ein begnadeter Künstler. Nun lebt er alleine in seinem großzügigen Anwesen Bridlemere im Westen Londons, das vor lauter Krempel aus allen Nähten platzt. Im Garten stapelt sich der Schrott, im Erdgeschoss kann man kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen und das Obergeschoss kann man gar nicht erst betreten, weil eine gigantische Wand alter National Geographic-Ausgaben den Zugang blockiert.

In dieses Chaos marschiert nun Maud. Sie ist damit beauftragt, den alten Mann und sein Haus auf Vordermann zu bringen. Keine ungefährliche Aufgabe – den letzten, der das versucht hat, hat Cathal mit einem Hurling-Schläger in die Flucht geschlagen. Doch Maud ist nicht gewillt, so schnell aufzugeben. Und sie hat sich Unterstützung mitgebracht: Maud weiß sich in der Gesellschaft von Heiligen. Sie warten auf sie an der Bushaltestelle, sitzen mit am Küchentisch, haben immer die besten Ratschläge parat und warnen, wenn Gefahr droht. Maud kennt sie alle und hat so Unterstützung in jeder denkbaren Lebenslage. Und wo die Heiligen nicht helfen können, gibt es ihre Nachbarin und Freundin Renata. Die hat zwar seit etlichen Jahren das Haus nicht mehr verlassen, weiß sich und Maud aber trotzdem aus jeder Patsche zu helfen und hat dank jahrelangem Krimi-Konsum eine ausgeprägte Spürnase. Die wird sie auch brauchen, denn Maud beginnt schnell zu ahnen, dass sich hinter Cathals schroffer Fassade nicht etwa ein weicher Kern, sondern ein kaltblütiger Mörder verbirgt. Sie hat ihn im Verdacht, nicht nur seine Frau umgebracht zu haben, sondern auch ein Mädchen, das vor Jahrzehnten vermisst gemeldet wurde und nie wieder aufgetaucht ist.

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Essen aus Büchern: Rock Cakes aus Tracy Chevaliers „Remarkable Creatures“

Tracy Chevaliers Roman Remarkable Creatures befasst sich mit bemerkenswerten Geschöpfen in mehrfacher Hinsicht. Zum einen sind da Mary Anning und Elizabeth Philpot, zwei Frauen aus dem englischen Lyme Regis, die so gar nicht in ihre Zeit zu passen scheinen. Zum anderen sind da die Geschöpfe, denen sie ihre gesamte Zeit widmen: Plesiosaurier, Ichthyosaurier, Ammoniten und andere Wesen, deren reine Existenz ganze Weltbilder auf den Kopf stellte. Insbesondere Mary Anning war eine außergewöhnliche Fossilien-Sammlerin und häufte erstaunliches Fachwissen an, das für viele Museen und Wissenschaftler von großer Bedeutung war. Die Paläontologie war für sie mehr als reine Liebhaberei. Mit den seltenen Funden verdiente sie Geld, um ihre Familie zu ernähren. Ihre Freundin und Sammel-Begleiterin Elizabeth Philpot stand da auf etwas sichereren Füßen. Für Londoner Verhältnisse war auch sie nicht wohlhabend, da sie und ihre beiden ebenfalls unverheirateten Schwestern von einer kleinen Rente leben mussten. Die aber reicht immerhin für ein Cottage in Lyme Regis und eine Haushälterin.

Und eben diese Haushälterin taucht dank ihrer Backkünste auch im Roman auf:

„Bessy made to many rock cakes and thought you might like some, Mrs Anning.“

Das ist natürlich eine Notlüge der Schenkerin – Elizabeth Philpot war immer bemüht, die Familie Anning mit Lebensmitteln zu unterstützen, was diese aber immer erstmal ablehnten.

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Essen aus Büchern: Crumpets aus Daphne DuMauriers „Rebecca“

„Last night I dreamt I went to Manderley again“, so lautet der bekannte erste Satz des Schauerroman-Klassiker Rebecca. Als der Roman beginnt, existiert Manderley schon nicht mehr, ebenso wenig wie die titelgebende Rebecca. Ihr Nachfolgerin, die zweite, die neue Mrs de Winter hat es schwer, in ihre Fußstapfen zu treten. Jung, unerfahren und verschüchtert hat sie vor allem unter der gruseligen Haushälterin Mrs Danvers zu leiden, die keinen Hehl daraus macht, dass sie „die Neue“ für keine würdige Nachfolgerin hält. Wohl oder übel serviert sie aber auch der Erzählerin jeden Tag ihren Tee in der Bibliothek, bei dem Crumpets niemals fehlen dürfen. Auch als das Ehepaar de Winter fern der zerstörten Heimat leben müssen, kann die Erzählerin das tägliche Ritual dieser Mahlzeit nie vergessen:

„Here, on this clean balcony, white and impersonal with centuries of sun, I think of half-past four at Manderley, and the table drawn before the library fire. The door flung open, punctual to the minute, and the performance, never varying, of the laying of the tea, the silver tray, the kettle, the snowy cloth. While Jasper, his spaniel ears a-droop, feigns indifferene to the arrival of the cakes. That feast was laid before us always, and yet we ate so little.
Those dripping crumpets, I can see them now.“

Zu diesem Zeremoniell werden natürlich nicht nur Crumpets serviert, sondern auch Toast, Scones, Sandwiches, Angel Cake und eine Art Fruchtkuchen. Der Erzählerin behagt es nicht, dass tagtäglich so opulent aufgefahren wird und macht sich oft Gedanken, was wohl mit den vielen Resten passiert. Sie traut sich aber natürlich nicht, das gegenüber Mrs Danver zur Sprache zu bringen aus Sorge, von ihr böse angeguckt zu werden.

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