Die Schriftstellerin Alfonsina Storni, die im Tessin geboren wurde und den größten Teil ihres Lebens in Argentinien verbrachte, ist im deutschsprachigen Raum so gut wie unbekannt. Das zu ändern hat sich Hildegard Keller nun mit ihrer „Edition Maulhelden“ zur Aufgabe gemacht. Für diese Edition übersetzt sie seit einiger Zeit Texte aus dem sehr abwechslungsreichen Werk Stornis. In Lateinamerika ist Storni vor allem für ihre Lyrik bekannt, sie schrieb aber auch für Zeitschriften. Literaturkritik gehörte dabei ebenso zu ihrem Repertoire wie Reisereportagen und Kurzgeschichten.


Cuca enthält eine Auswahl all dieser Gattungen. Den Beginn bilden einige sehr unterschiedliche Erzählungen. Storni verarbeitet darin sowohl ihre Erfahrungen als Lehrerin, als auch Reiseeindrücke wie die tiefe Freundschaft zu einer Vogelspinne namens Catalina, die im Hotelzimmer der Erzählerin lebt. Ein wiederkehrendes Thema ist auch die gehobene und eigentlich schon abgehobene „bessere Gesellschaft“ von Buenos Aires. Storni beweist darin eine genaue Beobachtungsgabe und einen kritischen, reflektierten Blick. Andere Texte wie der über die titelgebende Dame namens Cuca sind surreal und phantastisch. In ihren „Zugfensterheften“ notierte Storni Eindrücke einer Reise, die sie von Buenos Aires an der Ostküste bis nach Traful an der Grenze zu Chile unternahm. „Die Distanzen: Das ist Argentiniens Feind“ konstatierte die Autorin irgendwo auf der letzten Etappe hinter Bariloche. Aber immerhin bescherte die lange Reise ihr Einblicke in das Land und seine Leute von der öden Pampa bis zum mondänen Badeort an den Ufern des Correntoso-Sees, dessen Reiz auch Storni sich nicht entziehen konnte: „Eiskaltes Wasser, strahlende Sonne, das Paradies.“
Ich lernte wieder, unter mehligen Sternen, die sich wie Blüten öffneten, zu schlafen. Ich lernte, mit der Muße eines Forschers Blumen zu zerlegen und erblickte nachts den Seegang der Leuchtkäfer. Sie wogten über den schwarzen Boden, als wären sie auf hoher See.
Storni schrieb diese Texte in den frühen 1920ern, als die Zeitschriften gerade erst Frauen als Publikum entdeckten und ihnen eigene Seiten einräumten. Auf diesen erschienen, eingerahmt von Haushaltstipps und Rezepten, auch einige Texte Stornis. In diesen machte die Schriftstellerin sich auch Gedanken, wie es mit der Frau in der Gesellschaft weitergehen kann und darüber, wie es um die Frau als Autorin wie als Leserin bestellt ist. Auch diese Überlegungen, oft in Form von kurzen Aphorismen, finden Eingang in Cuca.
Die Texte Stornis sind sowohl charmant altmodisch als auch völlig zeitlos. Sie nehmen mit in eine argentinische Gesellschaft, die es schon lange nicht mehr gibt und stellen dabei Fragen, die bis heute aktuell sind. Besonders die Reiseskizzen sind vor allem kurzweilig und unterhaltsam, werden dabei aber niemals platt und lassen immer durchscheinen, wie gewitzt ihre Autorin war und vor allem über welch herausragende Beobachtungsgabe sie verfügte. Stornis Stil ist dabei so vielfältig wie ihre Texte und reicht von knapp und sachlich bis bildreich und poetisch. Ihr Blick auf die Gesellschaft und ihre Schwächen ist klar, ihre Bemerkungen darüber spitz und hintergründig. Herablassend oder bösartig aber wird sie nie. Auch dadurch gewinnen ihre Texte enorm.
tl;dr: Cuca versammelt einige sehr abwechslungsreiche Texte der argentinischen Autorin Alfonsina Storni erstmals in deutscher Übersetzung. Manchmal werden die Texte ein wenig abgründig, ganz überwiegend aber sind sie sehr charmant, klug und unterhaltsam.
Alfonsina Storni: Cuca. Geschichten. Herausgegeben und übersetzt von Hildegard Keller. 264 Seiten. Edition Maulhelden 2021.
Das Zitat stammt von S. 112.
Foto: Alfonsina Storni 1916 im Alter von 24 Jahren. Urheber unbekannt. Archivo General de la Nación Argentina.
Ich danke der Herausgeberin für das Leseexemplar.