Als ein Virus die Welt aus den Angeln hob – „1918 – Die Welt im Fieber“ von Laura Spinney

Als sich im Februar langsam abzeichnete, dass COVID-19 zu einer weltweiten Pandemie werden würde, äußerte Bill Gates, dass dieser Virus das Potenzial habe zu einem Erreger zu werden, wie er nur einmal im Jahrhundert vorkommt, ein „once-in-a-century pathogen“. Tatsächlich kommt COVID-19 fast pünktlich zum hundertjährigen Jubiläum der Spanischen Grippe, einem H1N1-Erreger, der in den Jahren 1918 – 1920 in drei Wellen wütete und mehr Opfer forderte als der gerade erst beendete Erste Weltkrieg. Nach aktueller Datenlage geht man davon aus, dass bis zu 50.000.000 Menschen Opfer der Grippeerkrankung wurden.

Laura Spinney - 1918 Die Welt im Fieber

Als die Spanische Grippe 1918 ausbrach, tat sie das aller Wahrscheinlichkeit nach nicht in Spanien, sondern in Kansas. Spanien hatte lediglich das Pech, als erstes Land in großem Stil über diese neue Grippe zu berichten, als sie dort schließlich ausbrach. Zu dem Zeitpunkt wütete sie bereits in den Schützengräben Frankreichs, was in den Wirren des Kriegs aber wenig kommuniziert wurde. Den Weg nach Europa hatte der Erreger vermutlich mit Truppentransporten US-amerikanischer Soldaten an die Westfront gefunden. Die Welt war für eine Epidemie dieser Größenordnung und Art überhaupt nicht gewappnet. Man wusste nichts von Viren und hatte außer ASS und Morphium kaum eine Möglichkeit, die Symptome zu bekämpfen. Das allgemeine Chaos des Krieges und die Heimreise der Überlebenden, empfangen von jubelnden Menschenmasse, taten ihr Übriges zur Ausbreitung der Krankheit. Verzweifelt versuchte man, der Situation mit der Schließung von Restaurants, Bars, Kirchen und Geschäften Herr zu werden, verhängte Ausgangssperren und schloss an einigen Orten die Schulen. Flächendeckende Einigung über diese Maßnahmen gab es nicht, zudem fehlten in fast allen Ländern effiziente Gesundheitssysteme und von koordinierenden Organisationen wie der WHO war noch gar keine Rede. In einigen Ländern aber gab sie immerhin Anlass, derartige Strukturen zu schaffen.

„Es war die Zeit vor der Entstehung der Bürgerrechtsbewegungen, und die Behörden hatten damals noch mehr Möglichkeiten, ins Privatleben der Menschen einzugreifen; Maßnahmen, die man heute als unzulässige Einmischung empfinden würde, wurden noch eher akzeptiert – vor allem in der durch den Krieg angefachten patriotischen Stimmung. In Amerika zum Beispiel wurden im Herbst 1918 nicht nur Kriegsdienstverweigerer als „Drückeberger“ verunglimpft, sondern auch Menschen, die sich Seuchenbekämpfungsmaßnahmen widersetzten.“

In ihrem Buch über diese Seuche untersucht die Autorin Laura Spinney „wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte“. Sie nähert sich dem Thema aus verschiedenen Blickwinkeln und beleuchtet das Phänomen unter medizinischen, soziologischen, ethischen und auch kulturellen Gesichtspunkten. Dabei interessiert sie besonders die Frage, warum ein Ereignis mit so gravierenden Auswirkungen kaum Eingang in die Kunst und auch nicht in das kollektive Gedächtnis der betroffenen Gesellschaften gefunden hat.

Es ist spannend zu lesen, in wie vielen Bereichen die heutige Pandemie und die der Spanischen Grippe sich gleichen, wie viele Diskussionen fast unverändert wiederholt werden, wie ähnlich viele Maßnahmen sind. Während Medizin und Forschung seit der Spanischen Grippe natürlich ungeheure Fortschritte gemacht haben, ist die Ohnmacht und Verzweiflung gegenüber dem Ausmaß der Seuche geblieben. Damals wie heute hält ein Virus die Welt an und nimmt Einfluss auf gegenwärtige wie zukünftige Ereignisse.

Laura Spinney stützt sich auf viele verschiedene Quellen, medizinische ebenso wie literarische, und liefert eine gelungene Mischung aus Grundlagen und anekdotischen Erzählungen. Nur höchst selten wagt sie sich auf das Gebiet der Annahmen und Mutmaßungen, auch das aber nie ohne eine solide Basis aus gesicherten Fakten. Wer noch Kapazitäten hat, sich mit Zahlen und Fakten zu einer weltweiten Pandemie auseinanderzusetzen, der findet mit Spinneys Buch eine sehr interessante, vielschichtige und kluge Lektüre.


tl;dr: Laura Spinneys Buch über die Spanische Grippe, die von 1918 – 1920 vermutlich etwa 50 Mio. Menschenleben kostete, ist eine gelungene und vielschichtige Geschichte einer Seuche, wie es sie bisher nie wieder gab. Wer mehr über Entstehung, Verbreitung und Eindämmung von Pandemien wissen will, ist hier genau richtig.


Laura Spinney: 1918 – Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Welt veränderte. Hanser 2018. Hardcover 384 Seiten, € 26,-. Übersetzt aus dem Englischen von Sabine Hübner. Originalausgabe: Pale Rider. The Spanish Flu of 1918 and How it Changed the World. Public Affairs 2017. Taschenbuch bei Vintage.

Das Zitat stammt von S. 115.

4 Gedanken zu “Als ein Virus die Welt aus den Angeln hob – „1918 – Die Welt im Fieber“ von Laura Spinney”

    1. Vielen Dank dafür! Schön, dass das Buch dich so begeistert.
      Wie du schon sagtest – das Buch ist nicht in der Hektik der aktuellen Lage zusammengeflickt worden, sondern beruht auf langer und fundierter Recherche, was man auch merkt.
      Ich wünsche viel Spaß beim Lesen!

      Gefällt 1 Person

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.