Unbekannte Wesen aus einer anderen Zeit – „Remarkable Creatures“ von Tracy Chevalier

Mary Anning, vermutlich die erste und sicher wichtigste Fossiliensammlerin Englands, war vor gar nicht langer Zeit schon Thema auf diesem Blog. Während sie zu ihren Lebzeiten wenig öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung erfuhr, ist das Interesse an ihr in den letzen Jahren spürbar gewachsen. Neben diversen Biographien gibt es mit Remarkable Creatures auch einen Roman, der sich mit ihrem Leben und dem ihrer Freundin und Mit-Sammlerin Elizabeth Philpot beschäftigt. Die Damen betrachteten sich selbst allerdings eher als Jägerinnen und nicht als Sammlerinnen. Sie waren bei Wind und Wetter am Strand unterwegs um möglichst schöne und spektakuläre Fossilien zu finden, während die Sammler gemütlich darauf warteten, dass man ihnen die schönsten Funde auf dem Silbertablett präsentierte.

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Für Mary Anning war der Verkauf von Fossilien die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen und entsprechend ernst musste sie die Jagd nehmen. Fast kein Tag verging, an dem sie nicht am Strand zu finden war, wo sie mit Sammelkorb und Hammer auf der Jagd war. Elizabeth Philpot hingegen kam aus einer Londoner Familie, die zwar nicht wohlhabend war, aber doch in sehr geordneten Verhältnissen lebte. Mit zwei weiteren unverheirateten Schwestern lebte sie in Lyme Regis an der Küste Dorsets und von dem Geld, das ihr Bruder ihnen zur Verfügung stellte, konnten sie zwar keine großen Sprünge machen, sich aber immerhin eine Haushaltshilfe leisten. Eigenständiger Broterwerb war im Leben von Frauen dieser Schicht zu Regency-Zeiten nicht vorgesehen. Während Elizabeths Schwestern sich Mode und Gartenarbeit widmeten, fiel ihr Interesse eben den Fossilien zu. Wer zu diesen Zeiten in Lyme Regis auf Fossilienjagd war, kam an Mary Anning nicht vorbei. Und so kam es, dass die beiden Frauen, die sich nach gesellschaftlichen Regeln nicht mal auf der Straße gegrüßt hätten, Freundinnen wurden.

„We had not long been installed in Morley Cottage before I grew certain that fossils were to be my passion. For I had to find a passion: I was twenty-five years old, unlikely ever to marry, and in need of a hobby to fill my days. It is so tedious being a lady sometimes.“

Dieser ungewöhnlichen Freundschaft widmet Tracy Chevalier ihren Roman, den sie abwechselnd von den beiden Frauen erzählen lässt. Als Elizabeth Philpot nach Lyme Regis kommt, ist Mary Anning noch ein Mädchen. Im Ort ist sie bekannt wie ein bunter Hund als das Kind, das vom Blitz getroffen wurde und überlebt hat. Sie lebt in einfachen Verhältnissen als Tochter eines Tischlers und lernt an der Sonntagsschule nur rudimentär zu lesen und zu schreiben. Bei der ersten Begegnung mit ihr schämt Elizabeth sich. Sie dachte, dass sie am Strand ganz tolle Fossilien gefunden hätte, muss aber erkennen, dass sie im Vergleich zur Jüngeren ganz schönen Schrott mitgenommen hat. Ein erster Kontakt entsteht, wie es den Regeln entspricht, über eine Dienstleistung. Elizabeth bezahlt Mary dafür, dass sie ihre Funde reinigt. Bald merken die beiden aber, dass sie von der anderen viel lernen können. Elizabeth hat viel theoretisches Wissen aus Büchern, Mary den Blick dafür, in welchem Stein sich fossile Schätze verbergen. Und so sind die beiden immer öfter gemeinsam am Strand anzutreffen, wo sie den Boden nach spektakulären Versteinerungen absuchen. Dass sie sich aber niemals wirklich auf Augenhöhe bewegen können, bleibt unübersehbar. Zu ungleich sind sie von Geburt an und die gesellschaftlichen Decken ihrer Zeit sind noch nicht einmal gläsern. Mary wird immer mehrere Stufen unter Elizabeth stehen, egal wie nett die beiden sich finden. Und es soll ausgerechnet ein Mann sein, der ihnen diesen Umstand deutlich vor Augen führt.

Mit Remarkable Creatures hat Chevalier einen sehr interessanten und lebhaften Roman geschrieben, der die Zeit der beiden Frauen und das Aufsehenerregende ihrer Funde nachvollziehbar macht. Während Fossilien heute immer noch einen besonderen Reiz haben, waren die ersten großen Funde zur Zeit Mary Annings eine echte Sensation und warfen große Fragen auf, die man eigentlich kaum zu stellen wagte. Denn niemand hatte je einen lebenden Ichthyosaurier oder Plesiosaurier gesehen. Wenn diese Tiere aber heute nicht mehr leben, heißt das, dass Gott sie hat aussterben lassen? Heißt das am Ende, dass seine Schöpfung nicht vollkommen war? An der falschen Stelle gestellt konnten diese Fragen eine ganze Menge Ärger bringen. Diese Brisanz und die daraus erwachsende Debatte vermittelt Chevalier interessant und nachvollziehbar. Anning und Philpot selbst waren von all den großen Diskussionen natürlich ausgeschlossen. Als Frauen hatten sie in der Wissenschaft nun mal nichts verloren. Dass das an den beiden begabten und wissbegierigen Frauen nagt, steht außer Frage. Mit Remarkable Creatures bringt Chevalier einem in jeder Hinsicht bemerkenswerte Kreaturen und eine Zeit im geistigen und gesellschaftlichen Umbruch näher. Nicht nur für Saurier-Fans ist dieser Roman ein Gewinn.


Tracy Chevalier: Remarkable Creatures. Harper Collins 2010. 352 Seiten. Erstausgabe ebenfalls Harper Collins 2009. Eine deutsche Übersetzung von Anne Rademacher ist unter dem Titel Zwei bemerkenswerte Frauen bei KNAUS und Penguin Deutschland lieferbar.

Das Zitat stammt von S. 26.

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