Sabine Huttel: Ein Anderer

Ernst Kroll wird während des Ersten Weltkriegs in einem kleinen Dorf in Thüringen geboren. Sein Vater Hilmar ist Lehrer und unterrichtet im oberen Stockwerk des Hauses die Kinder der Dorfes, zudem ist er Kantor. Die Familie ist angesehen, lebt aber in bescheidenen Verhältnissen, so wie alles in dem Dorf bescheiden ist. Ernsts Entwicklung ist, bedingt durch eine Schilddrüsenerkrankung, gehemmt. Er ist langsamer als andere Kinder seines Alters, hat Schwierigkeiten mit der Motorik und kann sich nur mühsam und oft schwer verständlich artikulieren. Dass sein Sohn sich nicht entwickelt wie erhofft, kann Hilmar ihm nicht verzeihen. Ein neuer Arzt verspricht Besserung durch den Verzehr roher Schafsschilddrüsen, doch das stößt bei Ernst nicht nur auf verständlichen Widerwillen, sondern macht sein Verhalten noch schwieriger für die Eltern. Einen Draht zueinander finden Hilmar und sein Sohn ausschließlich über die Musik. Ernst lauscht begeistert, wenn sein Vater Orgel spielt und lernt auch selbst einfache Stücke zu spielen. Nicht so gut wie der Vater es gerne hätte, aber gut genug für eine gemeinsame Basis.

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Ernst wird in der Dorfgemeinschaft oft genug verspottet, doch in aller Regel ist der Umgang mit ihm wohlwollend und er wird akzeptiert. In den Vorkriegsjahren aber dreht sich der Wind. Immer mehr Menschen sprechen von „unwertem Leben“, das eine Belastung für die Gesellschaft sei und manche, die Ernst früher freundlich gesonnen waren, raten der Mutter nun ohne Umschweife dazu, ihren Sohn loszuwerden. Auch seiner jüngeren Schwester Helene ist es auf einmal unangenehm, mit dem seltsamen Bruder gesehen zu werden. Das Überleben des Außenseiters gerät immer mehr in Gefahr und nur durch die schlaue Voraussicht des Vaters, der trotz aller Differenzen doch zu seinem Sohn steht, gelingt es knapp.

„Wie leicht konnte es geschehen, dass irgendein Auswärtiger, ein Sanitäter, eine Krankenschwester, auf Ernst aufmerksam wurde und ihn als Ballastexistenz dem Gesundheitsamt meldete. Und dann?“

Ein Anderer folgt dem ungewöhnlichen Protagonisten durch beinahe ein ganzes Jahrhundert, zwei große Kriege und mehrere Staaten. Der Roman ist damit auch die Chronik eines bewegten Jahrhunderts. Von vielen Ereignissen, die das ganze Land erschüttern, bleibt Ernst jedoch reichlich unberührt. Was seinen Alltag nicht unmittelbar beeinflusst, hat für ihn nur wenig Relevanz, einiges übersteigt auch schlicht seinen Horizont. Als Erwachsener wird er, auch wegen der fortbestehenden Entwicklungsdefizite, nie ganz akzeptiert und ist auch nie in der Lage einen Beruf zu ergreifen oder sein Leben eigenständig zu bewältigen. Aber auch die Unschuld der Kinderjahre wird ihm nicht lange gewährt. So bleibt er in einem Zwischenstadium, gehört zu keiner der beiden Welten und muss sich für alles einen eigenen Weg und eine eigene Herangehensweise suchen. Wenn auch von vielen geschätzt und geliebt, bleibt er eben „ein Anderer“.

Sabine Huttel wagt in diesem Roman keine großen Experimente und erzählt sehr klassisch aber auch sehr sicher und nuanciert aus einem Leben, das in keine Schablone passt. Der Blick auf Ernst und seinen Weg ist dabei nie mitleidig oder gar rührselig. Er hadert nicht mit seinem Schicksal, er lebt eben anders. Diese Sichtweise ist es auch, die den Roman so besonders und lesenswert macht und die seltene Gelegenheit bietet, bekannte Ereignisse aus einem völlig anderen Blickwinkel zu sehen.

Beeindruckend ist die Qualität des Textes vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass der Roman bisher nur im Eigenverlag erschienen ist und kein professionelles Lektorat durchlaufen hat. Ein Anderer ist mein Kandidat für den diesjährigen Blogbuster-Preis. Wer das Rennen bei diesem Wettbewerb machen wird, ist völlig unklar und die Entscheidung liegt in den Händen einer Fachjury. Lesen kann man den Text aber auch schon, denn nachdem Sabine lange erfolglos versucht hat, einen Verlag für ihren Roman zu finden, hat sie ihn im Eigenverlag veröffentlicht. Ich wünsche mir natürlich, dass der Sprung in einen „richtigen“ Verlag klappt, lesenswert ist Ernsts Geschichte aber auch schon jetzt.


Sabine Huttel: Ein Anderer. tredition 2017. 392 Seiten, € 14,99. Alternativ lieferbar als eBook für € 4,99.

Das Zitat stammt von S. 173

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