Pioniergeist im Untergrund – Sebastian Guhrs „Die langen Arme“

Yvette ist eine äußerst begabte Synästhetin und kann Gerüche hören. Zusammen mit ihrer Schwester Antje hat sie eine Fleischblume gebaut. Dieses ganz besondere Instrument besteht unter anderem aus den Köpfen von dreißig toten Katzen und einem Akkordeon, mit dessen Hilfe den Katzenköpfen das entlockt wird, was die Schwestern als Melodie wahrnehmen. Bei den 1.-Mai-Feiern in der Kleinstadt Gangolfsömmern gibt es für die Neuinterpretation von Arbeiterliedern dann leider Ärger statt Beifall.

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Während Yvette verbissen weiter an ihrer synästhetischen Fähigkeiten arbeitet, entdeckt Antje beim Schlafwandeln einen unterirdischen Raum. Dieser Raum, so stellt sich bald heraus, führt zu einem weitverzweigten Tunnelsystem, das unter ganz Gangolfsömmern verläuft. Jedes Haus ist über Türen an dieses System angebunden und so ist es für Antje ein Leichtes, unbemerkt in fremde Häuser zu kommen und Gesprächen zu lauschen, die sie nichts angehen. Und natürlich sind die weitläufigen Räume unter der Erde auch ein hervorragender Proberaum für die Fleischblume und andere Apparate von gleicher Schönheit sowie für die ersten amourösen Versuche in Antjes Leben. Das Leben im Unterirdischen interessiert Antje weit mehr als das mit den Oberflächlichen. Dort hat sie es schwer, Anschluss zu finden und spricht fast nur mit Goran und seinem psychodynamischen Lesekreis.

Die Langen Arme ist ein ebenso kurzer wie absurder und unterhaltsamer Roman. So sehr viel will ich dazu gar nicht sagen, denn dann ist der knapp 170 Seiten lange Roman auch beinahe schon erzählt. Man muss sich einlassen können und wollen auf dieses Konstrukt, auf die Umöglichkeiten, die bestehen bleiben und mit keinem Wort als solche thematisiert oder entschärft werden. Wenn man das will und macht, findet man hier einen witzigen, klugen und überraschenden Roman.


Sebastian Guhr: Die langen Arme. Kein & Aber 2019. 172 Seiten.

Ich danke dem Verlag für das Leseexemplar (und die Tafel Schokolade).

Die Shortlist des Blogbuster 2018

Seit Wochen warten alle Beteiligten gespannt darauf und nun ist sie da – die Shortlist des Blogbuster 2018. Von den 15 beteiligten BloggerInnen konnten Anfang des Jahres vier keinen Text finden, mit dem sie weiter machen wollten, also umfasste die Longlist dieses Jahr nur elf Titel und nun ist die Zahl der KandidatInnen auf magere drei geschrumpft. Ich freue mich sehr, dass „meine“ Autorin Sabine Huttel mit ihrem Roman Ein Anderer darunter ist. Wenn ich jetzt sage, dass ich das nicht gewusst habe, als ich am Sonntag die Rezension über ihren Roman geschrieben und für Dienstag geplant habe, glaubt mir das ja doch keiner, war aber so.

Anders als ursprünglich geplant, ist die Preisverleihung nun aber nicht schon im Mai. Eigentlich sollte bis dahin ein Sieger gekürt sein, damit der Roman bis Oktober bei kein & aber erscheinen kann und bei der Buchmesse dann präsentiert wird. Das ist sehr,  sehr wenig Zeit für Lektorat, Herstellung, Marketing und alles, was noch dazu gehört. Deshalb wird bei der Buchmesse erst der Sieger bekanntgegeben, der Roman ist dann im Frühjahrsprogramm des Verlags. Geduld ist nun wirklich keine meiner Tugenden und ich wäre froh gewesen, hätte es im Mai eine Entscheidung gegeben, ich verstehe diese Argumentation aber völlig und halte sie sogar für vernünftig. Die Daumen müssen also noch ein bisschen gedrückt bleiben.

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Sabine Huttel: Ein Anderer

Ernst Kroll wird während des Ersten Weltkriegs in einem kleinen Dorf in Thüringen geboren. Sein Vater Hilmar ist Lehrer und unterrichtet im oberen Stockwerk des Hauses die Kinder der Dorfes, zudem ist er Kantor. Die Familie ist angesehen, lebt aber in bescheidenen Verhältnissen, so wie alles in dem Dorf bescheiden ist. Ernsts Entwicklung ist, bedingt durch eine Schilddrüsenerkrankung, gehemmt. Er ist langsamer als andere Kinder seines Alters, hat Schwierigkeiten mit der Motorik und kann sich nur mühsam und oft schwer verständlich artikulieren. Dass sein Sohn sich nicht entwickelt wie erhofft, kann Hilmar ihm nicht verzeihen. Ein neuer Arzt verspricht Besserung durch den Verzehr roher Schafsschilddrüsen, doch das stößt bei Ernst nicht nur auf verständlichen Widerwillen, sondern macht sein Verhalten noch schwieriger für die Eltern. Einen Draht zueinander finden Hilmar und sein Sohn ausschließlich über die Musik. Ernst lauscht begeistert, wenn sein Vater Orgel spielt und lernt auch selbst einfache Stücke zu spielen. Nicht so gut wie der Vater es gerne hätte, aber gut genug für eine gemeinsame Basis.

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Über gute Texte und mühsame Wege – Longlist-Autorin Sabine Huttel im Interview

Wie ich in der letzten Woche schon bekanntgegeben habe, ist „mein“ Beitrag für den Blogbuster der Roman „Ein Anderer“ von Sabine Huttel. Seitdem ist noch eine sehr schöne Rezension von Constanze Matthes bei Zeichen&Zeiten erschienen, Sabine bereitet eine erste Lesung vor, und wir beide (alle?) warten sehnsüchtig auf den Frühling. Damit die Zeit nicht so lang wird, hat Sabine mir ein paar Fragen über ihren Roman, das Schreiben an sich und ihr Verhältnis zu Literaturblogs beantwortet:

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Du hast deinen Roman Ein Anderer beim diesjährigen Blogbuster-Preis eingereicht und der Roman steht nun auf der Longlist. Seit wann gibt es Ein Anderer?

Ich glaube, die aktuelle Textfassung war im Frühjahr 2016 fertig. Unter dem Titel „Ein Anderer“ erschien der Roman dann Ende September 2017.

Wie lange hast du an dem Roman gearbeitet?

Wenn ich die Zeit mitrechne, in der ich recherchiert habe, dauerte es drei Jahre, bis die erste Fassung stand. Dann habe ich den Text mehrfach überarbeitet, das dauerte noch mal ein knappes Jahr. Kurz vor der Veröffentlichung musste ich alles ein weiteres Mal ganz gründlich durchsehen. Alles in allem würde ich sagen: gut vier Jahre Arbeit stecken drin.

Der Roman deckt eine große Zeitspanne ab, in der sich gesellschaftlich und politisch viel getan hat. Musstest du dafür noch viel recherchieren?

Ja, eine ganze Menge. Zum Beispiel den Alltag in Thüringen während des 1. Weltkriegs. Ich habe dafür einige Zeit im Staatsarchiv auf der Heidecksburg in Rudolstadt zugebracht und die Lokal-Zeitungen aus den Jahren 1917 und 1918 durchforstet. Außerdem die Geschichte der Therapie von Schilddrüsen-Erkrankungen, die Entwicklung der Sozialdemokratie in der Weimarer Republik, besonders intensiv natürlich das „Euthanasie“-Programm und die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus, auch die Kollektivierung der Landwirtschaft in den Anfängen der DDR. Und, mit besonderem Vergnügen, das Innenleben eines Glockenturms und die Funktionsweise einer Orgel.

Der Protagonist des Romans, Ernst Kroll, ist ein Junge mit einer Schilddrüsenerkrankung, die großen Einfluss auf seine Entwicklung und sein Leben hat. Wie kam es zu dieser Thematik?

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Blogbuster – Mein Kandidat für die Longlist

In diesem Jahr mache ich beim Blogbuster-Preis mit. Das ist bisher ein bisschen untergegangen, zumindest hier auf dem Blog, denn bisher hatte ich noch nicht sehr viel darüber zu erzählen. Bis Ende 2017 durften AutorInnen bei diesem Preis ihre unveröffentlichten Romane einreichen, seitdem lesen ich und die anderen BloggerInnen uns durch mehr oder weniger vielversprechende Manuskripte und müssen bis Ende des Monats die Entscheidung getroffen haben, mit welchem Roman wir ins Rennen gehen wollen. Ab da übernimmt dann eine Fachjury, in der unter anderem Denis Scheck, Literaturagentin Elisabeth Ruge und Lektorin Sara Schindler vertreten sind. Zu Gewinnen gibt es Ruhm und Ehre in Form einer Veröffentlichung beim (von mir sehr geschätzten) Verlag Kein & Aber.

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182 Manuskripte wurden insgesamt für den Wettbewerb eingereicht, immerhin 70 weniger als im vergangen Durchlauf. Ob unter dem Rückgang in der Quantität auch die Qualität leidet, ist sicher eine andere Frage, aber einige der BloggerInnen hatten schon ein wenig zu kämpfen bei ihrer Suche nach einem passenden Text. Sophie von Literatourismus musste Mitte Februar sogar ganz die Segel streichen, nachdem sie nichts finden konnte, was sie begeistert hätte. Frank Rudkoffsky hingegen ist sehr begeistert von Die Federn meiner Mutter, dem Roman, mit dem er weitermachen will.

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