Über gute Texte und mühsame Wege – Longlist-Autorin Sabine Huttel im Interview

Wie ich in der letzten Woche schon bekanntgegeben habe, ist „mein“ Beitrag für den Blogbuster der Roman „Ein Anderer“ von Sabine Huttel. Seitdem ist noch eine sehr schöne Rezension von Constanze Matthes bei Zeichen&Zeiten erschienen, Sabine bereitet eine erste Lesung vor, und wir beide (alle?) warten sehnsüchtig auf den Frühling. Damit die Zeit nicht so lang wird, hat Sabine mir ein paar Fragen über ihren Roman, das Schreiben an sich und ihr Verhältnis zu Literaturblogs beantwortet:

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Du hast deinen Roman Ein Anderer beim diesjährigen Blogbuster-Preis eingereicht und der Roman steht nun auf der Longlist. Seit wann gibt es Ein Anderer?

Ich glaube, die aktuelle Textfassung war im Frühjahr 2016 fertig. Unter dem Titel „Ein Anderer“ erschien der Roman dann Ende September 2017.

Wie lange hast du an dem Roman gearbeitet?

Wenn ich die Zeit mitrechne, in der ich recherchiert habe, dauerte es drei Jahre, bis die erste Fassung stand. Dann habe ich den Text mehrfach überarbeitet, das dauerte noch mal ein knappes Jahr. Kurz vor der Veröffentlichung musste ich alles ein weiteres Mal ganz gründlich durchsehen. Alles in allem würde ich sagen: gut vier Jahre Arbeit stecken drin.

Der Roman deckt eine große Zeitspanne ab, in der sich gesellschaftlich und politisch viel getan hat. Musstest du dafür noch viel recherchieren?

Ja, eine ganze Menge. Zum Beispiel den Alltag in Thüringen während des 1. Weltkriegs. Ich habe dafür einige Zeit im Staatsarchiv auf der Heidecksburg in Rudolstadt zugebracht und die Lokal-Zeitungen aus den Jahren 1917 und 1918 durchforstet. Außerdem die Geschichte der Therapie von Schilddrüsen-Erkrankungen, die Entwicklung der Sozialdemokratie in der Weimarer Republik, besonders intensiv natürlich das „Euthanasie“-Programm und die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus, auch die Kollektivierung der Landwirtschaft in den Anfängen der DDR. Und, mit besonderem Vergnügen, das Innenleben eines Glockenturms und die Funktionsweise einer Orgel.

Der Protagonist des Romans, Ernst Kroll, ist ein Junge mit einer Schilddrüsenerkrankung, die großen Einfluss auf seine Entwicklung und sein Leben hat. Wie kam es zu dieser Thematik?

Es gab in meiner Familie ein Vorbild für diese Figur. Er war der Bruder meiner Mutter und fast 40 Jahre alt, als ich geboren wurde. Während meiner Kindheit verbrachten meine Geschwister und ich die Sommerferien immer in dem Dorf, in dem er mit meiner Großmutter lebte. Er gehörte ganz selbstverständlich dazu. Er liebte es, sich mit uns Kindern abzugeben, und wir liebten ihn, weil er klein und kindlich war, anders als alle Erwachsenen, aber auch wiederum ganz anders als alle Kinder, die wir kannten. Er passte in kein Schema, er war ein ganz besonderer Mensch! Dass es für unsere Großeltern ein Problem gewesen sein könnte, ein solches Kind zu haben, kam uns überhaupt nicht in den Sinn. Auch über die Gefährdung seiner Existenz während des Nationalsozialismus wurde in der Familie nie gesprochen. Erst als ich vor zehn Jahren Briefe meiner Eltern aus der Kriegs- und Nachkriegszeit las, fingen diese Fragen an mich zu beschäftigen. Plötzlich wurde mir bewusst, welche Verletzungen meine Eltern aus dieser Zeit davongetragen hatten, in welchem Ausmaß ihr späteres Leben davon gezeichnet war. Und es kam mir vor wie ein Wunder, dass mein Onkel, der Schwächste und am meisten Gefährdete von allen, sie nicht nur bei weitem überlebt hatte, sondern sogar ungebrochen und wie unberührt durch dieses wüste Jahrhundert gegangen war. Ich fragte mich, wie das geschehen konnte und wie er selbst wohl diese Zeit der Umbrüche erlebt hatte. Das war für mich beim Schreiben die größte Herausforderung: mich in Ernst Kroll hineinzufühlen und die Welt mit seinen Augen zu sehen.

Musik spielt eine große Rolle in deinem Roman. Warum ist das so? Hat die Musik für dich eine besondere Bedeutung?

Die erste, sehr frühe Berührung mit Musik ist für Ernst Kroll das Orgelspiel des Vaters. Hilmar Kroll, ein Dorfschullehrer, ist tief enttäuscht von seinem „dummen“ Sohn. Das lässt er ihn auch fühlen. Wie eine Mauer steht die Enttäuschung zwischen ihm und Ernst. Aber Hilmar Kroll ist musikalisch. Er verehrt Johann Sebastian Bach und erfüllt seine Kantorenpflichten mit Leidenschaft. Deshalb entgeht es ihm nicht, dass Ernst für Musik empfänglich ist. Musik ist ein erstes (und lange Zeit das einzige) Bindeglied zwischen Vater und Sohn. Schon deshalb ist sie immens wichtig für Ernsts Lebensweg. Trotz seiner motorischen Störungen lernt er als Kind ein wenig Klavier und Trompete spielen und ist glücklich, wenn schöne Töne dabei herauskommen. Mit Tönen drückt er aus, was er mit Worten nicht sagen kann. Auch für den „erwachsenen“ Ernst bleibt die Musik ein Rettungsanker, wenn Chaos droht, ein Lichtblick in Phasen der Traurigkeit. Und seine bescheidenen Künste auf der Orgel verschaffen ihm Anerkennung im Dorf, vor allem während des Krieges, und tragen so zu seinem Überleben bei.

Ich mache selbst auch viel Musik. Darauf verzichten zu müssen wäre für mich ein Unglück. Daher kann ich ermessen, was sie ihm bedeutet: Für Ernst Kroll ist Musik ein Lebensmittel in einem ganz radikalen Sinn.

Dein Roman ist im Eigenverlag bei tredition erschienen. Wie kam es zu dieser Entscheidung? Hast du vorher versucht, den Roman auf ‚konventionellem‘ Weg bei Verlagen unterzubringen?

Ja, natürlich hab ich das versucht. Für meine beiden ersten Bücher hatte ich jeweils einen Verlag gefunden, indem ich auf ganz herkömmliche Weise „unverlangt“ Leseproben verschickt habe. Das war mühsam und langwierig, hat aber schließlich geklappt. Beim dritten Buch hatte ich gehofft, es würde nun alles einfacher und schneller gehen. Ich dachte: Das ist mein bester Text! Und ich hatte sogar einen Agenten für das Projekt gewonnen! Leider klappte es trotzdem nicht. Warum, weiß ich nicht – die Ablehnungen wurden nicht begründet. Also blieb mir als Alternative zur Versenkung in der Schublade nur das Selfpublishing.

Du hast, auch vor deiner Bewerbung beim Blogbuster, schon Kontakt zu BloggerInnen gehabt. Wie hast du das wahrgenommen? Hattest du den Eindruck, dass self publisher ernst genommen werden?

Definitiv! Vielleicht nicht von allen BloggerInnen gleichermaßen, grundsätzlich aber schon. Ich habe mir sehr viele Blogs angesehen und überlegt, ob mein Buch und der Blog zusammenpassen könnten. Insgesamt habe ich dann zehn BloggerInnen Informationen zu „Ein Anderer“ geschickt und gefragt, ob sie Interesse an einem Leseexemplar hätten. Vier haben positiv reagiert, zwei lehnten freundlich ab mit dem Hinweis auf hohe Stapel, die noch abzuarbeiten seien, vier reagierten gar nicht. Inzwischen sind schon zwei sehr schöne Rezensionen erschienen, zwei werden demnächst folgen. Das ist ein gutes Ergebnis, finde ich!

Welche Rolle haben Literaturblogs in deiner Wahrnehmung? Hältst du sie für eine relevante Größe im Literaturbetrieb?

Ich glaube, sie werden immer wichtiger! Natürlich kann ich die Verhältnisse in der Branche nicht wirklich überblicken. Aber ich habe den Eindruck, dass die Strukturen im traditionellen Literaturbetrieb sich verhärten. Viele Verlage kämpfen ums Überleben, sie suchen und brauchen den schnellen großen Erfolg. Wenn alle Manuskripte abgelehnt werden, die auf den ersten Blick kein Kassenrennerpotenzial zu besitzen scheinen, führt das zwangsläufig zu einem Verlust der Vielfalt und auch der literarischen Qualität in der Bücherwelt. Ich glaube, einige Blogs bilden schon jetzt ein Gegengewicht zu diesem Trend. Mir ist z.B. aufgefallen, dass BloggerInnen auch ab und zu Bücher besprechen, die schon seit vielen Jahren auf dem Markt sind, auch regelrechte Klassiker, eben nicht nur das Neueste, das eh in aller Munde ist. Das gefällt mir. Gute Literatur hat kein Verfallsdatum. Auch der Blogbuster ist doch eine tolle Sache: eine Art Nachlese unter den Texten, die durchs Raster des Literaturbetriebs gefallen sind. Das Engagement der beteiligten Blogger finde ich beeindruckend. All die eingegangenen Manuskripte zu sichten macht doch eine Menge Arbeit! Also: Ich denke, die Blogs leisten einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung von Vielfalt und Qualität. Je magerer die klassischen Print-Feuilletons und je hektischer die Programm-Entscheidungen der Verlage, desto wichtiger werden die Blogs.

Liest du regelmäßig Blogs?

Bis vor kurzem eher selten. Aber in letzter Zeit folge ich einigen Blogs und lese die neuen Rezensionen, blättere in den Seiten… Das ist schon interessant. So sind auch ein paar Kontakte entstanden, die Spaß machen.

Was erhoffst du dir von deiner Teilnahme beim Blogbuster? Was war ausschlaggebend für deine Teilnahme?

Ein Buchvertrag mit Kein&Aber wäre natürlich das große Los, denn dann würde mein Roman sicher sein Publikum finden – und das ist ja mein Ziel und großer Wunsch! Aber auch wenn das nicht klappt, kann der Blogbuster dem Buch helfen. Ein selbstpubliziertes Buch hat es meist schwer, LeserInnen auf sich aufmerksam zu machen, besonders wenn der Name des Autors/der Autorin weitgehend unbekannt ist. Man muss als AutorIn viel dafür tun, dass überhaupt jemand das Buch zur Kenntnis nimmt. Ich verspreche mir von der Teilnahme, dass mehr potenzielle LeserInnen meinen Roman entdecken. Deshalb habe ich mich riesig gefreut, als du „Ein Anderer“ auf die Longlist gesetzt hast. Und es bleibt spannend…

Das bleibt es! In wenigen Tagen werden die Leseproben der Longlist erscheinen, dann sehen wir, gegen wen Ernst sich behaupten muss. Ich drücke die Daumen!

 

SabHitPort
Foto: Wolfgang Kleber

Sabine Huttel, geboren 1951 in Wiesbaden, war nach ihrem Studium der Politikwissenschaft und Germanistik als Lehrerin tätig. Heute lebt sie in Berlin, musiziert und schreibt. Vor Ein Anderer hat sie bereits einen Roman und eine Sammlung von Erzählungen veröffentlicht.

Mehr über sie und ihre Bücher findet sich auf ihrer Website sabinehuttel.de

 

 

3 Gedanken zu “Über gute Texte und mühsame Wege – Longlist-Autorin Sabine Huttel im Interview”

  1. Ein sehr schönes Interview. Vor allem ein Satz hat sich mir eingeprägt: Gute Literatur hat kein Verfallsdatum – wie wahr. Vielen Dank fürs Verlinken und viel Erfolg für beide weiterhin beim Blogbuster. Viele Grüße

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