Überall auf der Welt entdecken pubertierende Mädchen auf einmal eine neuartige Kraft in ihrem Körper: mit einem Organ, das sich in etwa in Höhe der Schlüsselbeine befindet, können sie Elektrizität erzeugen und über ihre Hände abgeben. Einige entwickeln dabei eine solche Kraft, dass sie Menschen töten können, zumindest aber schwer verletzen. Die jungen Frauen geben ihre Kräfte an die älteren weiter und bald gibt es fast keine Frau mehr auf der Welt, die nicht in der Lage wäre, sich mit Stromstößen zu wehren oder andere anzugreifen. Für die Männer wird es gefährlich. Man rät ihnen, nachts nicht alleine auf der Straße zu sein und die Frauen nicht unnötig zu provozieren, etwa durch aufreizendes Verhalten. In einigen Gegenden auf der Welt kommt es zu Tumulten und Straßenschlachten. Die Frauen rächen sich an jenen, die sie über Jahrzehnte und Jahrhunderte brutal unterjocht haben. Viele vermuten eine göttliche Kraft dahinter und wenden sich an „Mother Eve“, die Anweisungen von Gott (weiblich) erhält. Mother Eve hieß mal Allie und hat den Vater ihrer Pflegefamilie getötet. Treu an ihrer Seite ist Roxy, eine der stärksten Frauen der Welt, die als Tochter eines Gangsterbosses mit recht wenig Skrupel aufgewachsen ist. An Frauen wie diesen ist es nun, eine neue Weltordnung aufzubauen.
„When the people change, the palace cannot hold.“
Eingebettet ist die Handlung in den Bericht eines Historikers. Alderman selbst tritt im Roman auch auf, allerdings nicht als Erzählerin, sondern als Leserin. Sie selbst hat den Text bekommen von eben diesem Historiker, einem Freund, der um ihre Meinung bittet. Sie beide leben in einer weit entfernten Zukunft, und der Historiker erläutert den rasanten und beinahe mystischen Aufstieg der Frauen. Staunend schreibt er von Anzeichen dafür, dass in einer grauen Vorzeit die Männer stärker und mächtiger waren als die Frauen. Allerdings sind die Beweise rar und die Theorie höchst gewagt.
Alderman hat wirklich fantastische Ideen und besonders zu Beginn folgt ein brillanter Einfall dem nächsten. Wie sie patriarchale Machtstrukturen und die Logik der Rape Culture umkehrt zeigt nicht nur ein tiefes Verständnis dieser Systeme, sondern ist auch ein fieser, schwarzhumoriger Kommentar. Ich will nicht sagen, dass sie das nicht hätte alleine schreiben können, aber der Atwoodsche Support scheint an einigen Stellen durchzuschimmern. Zumindest teilen sie sich einen Humor, was ja nicht das schlechteste ist.
Die Handlung allerdings konnte mich nicht durchgehend überzeugend. Zum einen ist da der Pathos. Große Bilder von friedlichen Massen, die auf die Straße gehen, und die nur durch Menge und Zusammenhalt zur Bedrohung werden. Ich sehe aber ein, dass der Roman diese Bilder braucht. Und dann gibt es noch ein paar Szenen, die zur billigen Rache-Fantasie werden. Beispielsweise wird eine in ein Gebäude eindringende Polizeieinheit zu Fall gebracht, indem man das Erdgeschoss unter Wasser setzt und dieses dann elektrifiziert. Das ist irgendwie witzig und befriedigend, es ist aber auch „Kevin allein zu Haus“. Den Einstieg in den Roman habe ich sehr geliebt und war die ersten Seiten sehr überzeugt, dass er wirklich der moderne Klassiker ist, zu dem er nur wenige Wochen nach Erscheinen erkoren wurde. Dann aber habe ich mich fast vier Wochen mit diesem Buch aufgehalten, was nie ein gutes Zeichen sein kann. Der Spannungsbogen kommt nicht richtig hoch, die Handlung, die sich im wesentlichen auf vier Personen konzentriert, fasert aus und kommt ins Stocken. Das hätte mich vermutlich weit weniger geärgert, wäre der Unterbau nicht so smart und witzig gewesen. Diese Ideen hätten eine bessere Story verdient.
Die Frage, ob eine von Frauen beherrschte Welt gerechter und weniger brutal wäre, ist ein oft gestellte und diskutierte. The Power ist Aldermans Diskussionsbeitrag. Sie hat die Mechanismen verstanden, sie ist differenziert, sie ist klug, sie ist witzig und, es bricht mir das Herz, ihre Story kommt nicht in Gang. Dafür galoppiert am Ende die Handlung blind davon. Gern gelesen hab ich das Buch aber trotzdem, weil es eben diese wirklich brillante Basis hat.
Im übrigen möchte ich noch anmerken, dass ich den deutschen Titel Die Gabe für eine etwas ungünstige Übersetzung halte. Wenn alle etwas können, ist es keine Gabe mehr und außerdem geht es nicht um Gaben, sondern um Macht. Aber jemand wird sich was dabei gedacht haben.
(Ganz zum Schluss noch eine Triggerwarnung: Das Buch geizt nicht mit der expliziten Darstellung von Vergewaltigungen)
Naomi Alderman: The Power. Penguin 2017. 338 Seiten, ca. € 9,-. Erstausgabe Viking 2016. In deutscher Übersetzung von Sabine Thiele 2018 unter dem Titel Die Gabe 2018 bei Heyne erschienen.
Das Zitat stammt von S. 4
Für diesen Roman hat Alderman 2017 den Baileys Prize bekommen. Dieser Beitrag ist Teil des wpf-Leseprojekts.
Ach schade, die Idee gefällt mir ausnehmend gut. Da schau ich mich doch mal um ob ich nicht wenigstens mal reinlese. Danke dir für den Tipp.
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Unbedingt! Das allgemeine Echo ist ja auch ein sehr positives. Du könntest da durchaus Spaß dran haben.
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Überzeugt. 😊
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Ich glaube, ich war noch enttäuschter als du. Oder vielleicht trifft es „frustrierter“ eher, weil es nach dem ziemlich guten ersten Drittel/Viertel einfach nur noch (und sehr steil) bergab geht.
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Und ich habe schon wieder vergessen, was die unbefriedigende Erklärung der Gabe war!
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SPOILER —- im Zweiten Weltkrieg wurde ein Medikament getestet, das gegen Giftgas schützen sollte und dem Trinkwasser zugesetzt wurde. Zu spät wurde entdeckt, dass es kumuliert und diesen Nebeneffekt hat — SPOILER
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Ob sich wirklich immer jemand etwas bei übersetzten Titeln denkt, wage ich allerdings zu bezweifeln … 🙄
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