Neil Gaiman: Der Ozean am Ende der Straße

Der namenlose Erzähler wächst auf als unglückliches Kind reicher Eltern in einer sehr ländlichen Gegend in England. Er ist in in etwa sieben Jahre alt, als die Geschichte beginnt. Eines abends taucht ein Opalschürfer aus Südafrika im Haus seiner Eltern auf, überfährt bei der Ankunft das geliebte Kätzchen des Erzählers und stiehlt im Verlauf der Nacht das Auto des Vaters um am Ende der Landstraße darin Selbstmord zu begehen.

Bei dieser Gelegenheit lernt der Erzähler die elfjährige Lettie kennen. Sie wohnt mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter auf einem Hof ganz am Ende dieser Straße. Dem Erzähler zeigt sie das größte Wunder auf ihrem Grundstück: einen ganzen Ozean, der auf den ersten Blick nur ein Ententeich zu sein scheint. Aber Lettie behauptet, über diesen Ozean erreiche man andere Welten und auch sie sei eines Tages über dieses Wasser gekommen. Die drei Frauen scheinen weit mehr zu sein als einfache Bäuerinnen. Sie haben ganz besondere Fähigkeiten und wissen von mysteriösen Dingen, die weit über das hinausgehen, was der Erzähler für möglich hält.

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Er wird hineingezogen in ein unglaubliches Abenteuer und schon bald muss er sich mit Letties Hilfe gegen die gruselige Haushälterin Ursula zur Wehr setzen, die seine ganze Familie bedroht. Und die merkt nicht einmal etwas davon und schwärmt stattdessen von den fantastischen Kochkünsten der Frau.

Zu Beginn des Romans kommt der Erzähler nach langen Jahren der Abwesenheit als längst erwachsener Mann wieder an den Ort seiner Kindheit, sitzt am Rande des Ozeans und sinniert über die lange zurückliegende Begebenheit. Hat sich das wirklich alles so zugetragen? Oder waren es die sehr elaborierten Tagträume eines Jungen, der zu oft einsam war und sich die Zeit mit Geschichten vertrieb?

„Ich war kein glückliches Kind, auch wenn ich hin und wieder ein zufriedenes war. Ich lebt mehr in meinen Büchern als irgendwo sonst.“

Das grundlegende Setting ist ein modernes Märchen und bietet gute Voraussetzungen. Die Erzählung ist dann allerdings sehr unrund und nicht in sich schlüssig. Das Wesen, das Ursula sein kann oder ein riesiges Monster oder ein winziger Wurm kommt aus dem Nichts, es wird nie auch nur im Ansatz erklärt, welche Art von Wesen sie ist und warum sie sich gerade jetzt einen Weg in die Welt bahnt. Gleiches gilt für diverse andere Wesen, über die Lettie und die beiden anderen Frauen in einem gewissen Rahmen gebieten können. Auch woher Lettie nun kommt, was es mit ihr auf sich hat und woher sie ihre Fähigkeiten bezieht, bleibt völlig im Dunkeln.

Nun ist es natürlich grundsätzlich okay, wenn in einer fantastischen Welt Dinge einfach so sind und Menschen Fähigkeiten haben, die in anderen Welten undenkbar wären. In diesem Fall aber hatte ich den Eindruck, dass einfach überhaupt kein durchdachtes Konzept hinter der Geschichte steht. Ich habe das Hörbuch während einer Autofahrt gehört und war mir zwischenzeitlich sicher, dass bei meiner Datei Tracks fehlten oder vertauscht waren, so lückenhaft erschien mir das ganze. Ein Durchblättern des Romans aber bewies das Gegenteil – ich habe tatsächlich die ganze Geschichte gehört.

Grundsätzlich ist die Geschichte sympathisch und unterhaltsam und funktioniert auch als modernes Märchen. Es bleiben aber einfach sehr, sehr viele lose Enden. Wie schon gesagt – ich kann absolut damit leben, dass in Fantasyromanen unglaubliche Dinge passieren, das ist ja die ganze Idee dahinter. In den ersten drei Vierteln des Romans hatte ich auch Spaß daran. Da kommt ein mysteriöses Wesen und es gibt ein geheimnisvolles Mädchen, das dagegen kämpft. Dann kommen mehr mysteriöse Wesen und mehr fantastische Fähigkeiten und dann – kommt nichts. Im letzten Viertel des Romans dämmerte mir langsam, dass es keine Erklärung geben wird und dass Gaiman mir nicht mehr sagen wird, was denn die Idee hinter all dem ist, wer die Wesen sind und warum Lettie über sie gebieten kann. Ist halt so. Ich vermute, dass die Geschichte eigentlich von kindlicher Selbstfindung handelt und von der Verarbeitung erschreckender Ereignisse durch das Erfinden neuer Welten. Funktioniert für mich aber auch nicht. Es bleiben die ratlos flatternden Enden.


Neil Gaiman: Der Ozean am Ende der Straße. Übersetzt von Hannes Riffel. Hörbuch gelesen von Hannes Jaenicke. Lübbe Audio 2014. Erschienen im Taschenbuch bei Bastei Lübbe 2016. Originalausgabe: The Ocean at the End of the Lane. William Morrow and Company 2013.

Das Zitat stammt aus Kapitel 5/62 der Hörbuchfassung.

6 Gedanken zu “Neil Gaiman: Der Ozean am Ende der Straße”

  1. Ich erinnere, deine Kritik ist durchaus berechtigt, fand das Buch aber so atmosphärisch, poetisch, dass mich all diese Kritikpunkte wenig bis gar nicht störten. Ist halt so, hat in diesem Fall bei mir funktioniert. Das Buch selbst hat mir eine liebe Lesefreundin als Überraschungspaket geschickt, weil sie damit nichts anfangen konnte. Immer wieder interessant wie unterschiedlich gewichtet wird. Nice WE

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    1. Atmosphärisch hat mir das Buch auch gut gefallen. Aber diese Fehlstellen in der Handlung haben mich da leider immer wieder rausgerissen.

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      1. Das habe ich deiner Besprechung entnommen. Mir ging es nicht so, vielleicht auch weil ich großer Gaiman Fan bin.

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  2. Das liegt noch auf meinem Nachttisch und wartet darauf, dass ich mal damit anfange. Nun bin ich etwas demotivierter… Aber da es mir von vielen Leuten empfohlen wurde, probiere ich es dennoch mal und schaue, ob ich eher bei dir oder thursdaynext bin! Ich bin gespannt!

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    1. Unbedingt! Ich kenne sehr viele Leute, die das Buch toll fanden. Bei Gaiman sind die die Dinge ja auch öfter „halt so“, das hat mich bisher auch nie gestört. Hab Spaß damit!

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