In diesem Roman erzählt Atwood die Geschichte von Grace Marks. Grace war ein fünfzehnjähriges Dienstmädchen, das 1843 beschuldigt wurde, gemeinsam mit James McDermott, Angestellter im gleichen Haushalt, ihren Arbeitgeber Thomas Kinnear und dessen Haushälterin Nancy Montgomery ermordet zu haben. Anschließend sollen die beiden als Liebespaar in die USA geflohen sein, wo sie festgenommen wurden.
James McDermott wurde zum Tode verurteilt, Grace Marks zu lebenslanger Haft, die sie zumindest zeitweise in der Psychiatrie verbrachte. Ein Kommitee zu ihren Gunsten versuchte über Jahre, ihre Freilassung zu erreichen. Die zeitgenössischen Quellen zu diesem Fall übertreffen sich gegenseitig in Sensationsgier und widersprechen sich zum Teil erheblich.
Aus den vorhandenen Quellen hat Atwood so gut es ging die Fakten destilliert und mit viel Fiktion einen Romanstoff daraus gemacht. Dazu hat sie Dr. Simon Jordan erfunden, einen jungen Arzt und Spezialisten auf dem noch jungen Gebiet der Psychologie. Im Auftrag von Graces Gönnern soll er herausfinden, was wirklich an den fraglichen Tagen geschah. Abwechselnd wird aus der Perspektive von Simon Jordan und Grace Marks erzählt. Der Einstieg in den Roman ist etwas zäh, denn Grace tut sich erst schwer damit, Vertrauen zu dem jungen Arzt zu fassen und ist zurückhaltend in ihren Berichten. Zudem benutzt sie zwar viel wörtliche Rede aber keinerlei Satzzeichen, die dies verdeutlichen würden, was das Lesen nicht leichter macht. Nach diesen Anfangsschwierigkeiten aber gerät die Geschichte in Fahrt und Grace berichtet von ihrem Schicksal, das sie aus ärmlichen Verhältnissen in Irland in noch schlimmere in Kanada gebracht hat. Im Alter von 13 beginnt sie schließlich als Dienstmädchen zu arbeiten und gerät so in den Haushalt von Thomas Kinnear, der ihr ein sehr sympathischer Dienstherr ist. Nancy Montgomery, seine Haushälterin, hat Grace angeworben und sie hofft, in ihr eine Freundin zu finden. Doch schnell erkennt sie, dass Nancy eifersüchtig über Thomas wacht und sehr empfindlich reagiert, wenn er Grace gegenüber zu nett ist, was das Verhältnis der beiden Frauen schnell und nachhaltig stört.
Aber ist es vorstellbar, dass Grace sie deswegen getötet hat? Ihren eigenen Berichten zufolge ist Grace sanftmütig, gutgläubig und oft naiv. Von den meisten Mitmenschen spricht sie positiv und verständnisvoll. Es scheint unwahrscheinlich, dass sie jemanden verletzen, geschweige denn töten könnte. Andererseits hatte sie in ihrer Haftzeit ein paar Aussetzer, hat geschrieen und Menschen gebissen. Auch während ihrer Zeit in der Psychiatrie war sie manchmal kaum unter Kontrolle zu bringen. Vielleicht hatte sie in der fraglichen Nacht auch so einen Aussetzer? Simon Jordan weiß nicht so recht, woran er bei ihr ist. Und die Leserin erst recht nicht.
„He doesn’t understand yet that guilt comes to you not from the things you’ve done, but from the things that others have done to you.“
In Graces Bericht klingt eines immer durch: Eigene Entscheidungen hat sie in ihrem Leben nicht viele getroffen. Die Geschichte, die sie von ihrem Leben erzählt, ist eine Verkettung von Ereignissen die ihr nach und nach widerfahren, ohne dass sie großen Einfluss darauf hätte. Ihre erste Stelle als Dienstmädchen tritt sie an, weil sie keine Wahl hat und irgendwie ihr Geld verdienen muss, alle folgenden Stellen sind nur eine logische Konsequenz. Sie schafft es aber, trotz widriger Umstände, immer ihre moralischen Standards zu wahren. Herrenbekanntschaften hat sie keine und es gelingt ihr auch immer, sich gegen fragwürdige Avancen ihrer Dienstherren zu wehren. Grace bleibt immer sittsam und bescheiden. Zumindest in ihrer Version der Geschichte.
Aber einige Berichte sprechen eindeutig gegen sie. Der ehemalige Nachbar sagt aus, er habe Grace am Tag des Mordes in Nancys Kleid gesehen. James McDermott behauptet, es sei alles ihre Idee gewesen, sie habe ihn heiraten und fliehen wollen. Ihr Verteidiger glaubt ihr die Amnesie nicht und sagt, keiner seiner Angeklagten habe sich je an seine Taten erinnern wollen.
Die viel größere Frage, die Atwood in diesem Roman stellt, ist aber die, ob man bei einer Person wie Grace überhaupt von Schuld sprechen kann. Ist Nancy ihr Opfer oder ist Grace das Opfer einer gesellschaftlichen Struktur, die ihr an fast keinem Punkt eine Wahl lässt? Ist Grace in einer Sackgasse, in der ein Mord der einzige Ausweg sein kann? Als Immigrantin und Dienstmädchen ist sie sehr weit unten in der gesellschaftlichen Hierarchie und hat fast keine Möglichkeiten, sich wirksam zu wehren. Aber kann man damit eine Gewalttat rechtfertigen?
Es ist ein spannendes Thema, das hier exemplarisch an Grace Marks verhandelt wird. Aber auch wenn es ihr Fall ist, ist sie kein Einzelschicksal. Die anderen Mädchen, die mit ihr in den Haushalten der reichen Bevölkerung arbeiten, leben fast exakt das gleiche Leben, stoßen an die gleichen Grenzen und erfahren die gleichen Ungerechtigkeiten. Es sind winzige Ereignisse, die ihre Leben in andere Richtungen lenken. Die Mädchen selbst, oft noch halbe Kinder, können da nicht viel ausrichten. Die Entscheidung, wer die Schuld an ihren Taten trägt, nimmt Atwood den Lesern allerdings nicht ab. Alias Grace zeigt als historischer Roman einen winzigen Ausriss kanadischer Geschichte und überzeugt wie immer mit Atwoods feinem und bissigem Humor und scharfer Beobachtung.
Margaret Atwood: Alias Grace. Anchor 1997. 480 Seiten, ca. € 16,-. Erstausgabe McClelland & Stewart 1996. Auf deutsch lieferbar unter dem Titel Alias Grace in der Übersetzung von Brigitte Walitzek. Berliner Taschenbuch 2009. 624 Seiten, € 12,99. Frühere Ausgabe unter gleichem Titel 1998 bei btb.
Das Zitat stammt von S. 379
Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.
Ich hab das Buch mit einer Lesegruppe gelesen und eine Teilnehmerin war psychotherapeutisch ausgebildet. Sie fand in dem Buch Hinweise auf eine Schizophrenie bei Grace, was darauf hindeuten könnte, dass sie die Tat tatsächlich begangen hat, ohne es zu wissen bzw. schuldfähig zu sein. Fand ich total spannend.
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Das ist ein guter Ansatz! Ich hatte auch an einigen Stellen den Eindruck, dass Grace selbst sich nicht so sicher ist, was sie gemacht hat und was nicht.
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Das hat mir auch sehr gut gefallen. Bei mir steht jetzt Hexensaat an, und ich bin schon sehr gespannt. Man sollte mehr Atwood lesen! 🙂
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Das sollte man wirklich!
Von Hexensaat hab ich bisher eigentlich nur gutes gehört. Das steht auch ziemlich weit oben auf meiner Leseliste.
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Hallo Marion!
Momentan kann man an Margeret Atwood nicht vorbei. Auf jedem Blog werden gerade Bücher von ihr besprochen ^^ Ich hab mich noch nicht rangetraut. Mit welchem anderen Autor oder welcher Autorin würdest du sie denn vergleichen? Schreibt die besagte Dame eigentlich nur Krimis? LG Tinka
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Hallo Tinka,
Atwood ist im Moment wirklich überall. Sie ist ja ohnehin eine feste Größe, aber der erneute und riesige Erfolg von „A Handmaid’s Tale“ hat das nochmal befeuert. Außerdem hat sie ja auch gleich zwei neue Romane veröffentlicht in diesem Jahr.
Ich würde ihre Romane gar nicht als Krimis beschreiben, auch wenn die Geschichten oft geheimnisvoll sind. Ihre Themen und auch die Stimmung in vielen Romanen finde ich eher dystopisch.
Ihren Stil zu vergleichen, finde ich schwierig. Sie schreibt sehr straight und oft humorvoll, wenn letzteres auch manchmal ins Zynische kippt. Hilary Mantel ist ihr ein bisschen ähnlich, vielleicht auch Ann Patchett, beide aber fast eher in der Art, wie sie ihre Frauenfiguren konstruieren.
Wenn du noch gar nichts von Atwood gelesen hast, könnte Lady Oracle ein guter Einstieg sein. Da fehlt das Düstere, das sie sonst oft hat, die Art, wie sie ihre Hauptfigur darstellt, ist aber recht typisch. Ich habe da vor einigen Monaten auch schon mal drüber geschrieben: https://schiefgelesen.net/2017/01/24/margaret-atwood-lady-oracle/
Ich finde, Atwood ist eine wirklich tolle Autorin. Gib ihr mal ne Chance!
Viele Grüße,
Marion
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