Der nebulöse Gast – „Die Aufdrängung“ von Ariane Koch

Die junge Erzählerin in Ariane Kochs Roman-Debüt Die Aufdrängung lebt ganz alleine in einem riesigen Haus in einer Kleinstadt am Fuße eines Berges. Schon vor langem wollte sie die Kleinstadt verlassen, hat sogar schon Kisten dafür gepackt, die nun aber in ungenutzten Räumen des Hauses verstauben. Sie schafft es einfach nicht, sich selbst zum Aufbruch zu bringen.

„Ich habe den Gast aufgenommen, weil Staubfäden von den Wänden hingen, weil irgendjemand diese Staubfäden wegmachen musste und weil das Gemüse im Kühlschrank zu verfaulen drohte.“

In diese Trägheit hinein stolpert eines Tages ein Gast. Wie er aussieht und wer er ist, bleibt den ganzen Roman über unklar. Er hat Finger wie Pinsel, scheint sehr behaart zu sein und dabei so fein, dass ein Windstoß ihn auseinanderwehen könnte. Die Erzählerin nimmt ihn mit nach Hause. Das ist alles andere als selbstverständlich und der Bürgermeister schreibt ihr dafür gar einen Dankesbrief. Es steht dem Ort gut zu Gesicht, dass in ihm so gastfreundliche Menschen leben. Doch schnell kippt die Stimmung. Der Gast nimmt immer mehr Raum ein, wird lästig und isst sogar alle Vorräte der Erzählerin auf. Das macht sie so wütend, dass sie gar nicht mehr einkaufen geht. Der Kontakt mit ihren Freunden und Bekannten wird seltener, so sehr ist sie mit ihm und seinen Forderungen beschäftigt. Eine gemeinsame Sprache scheinen die beiden nur zeitweise zu haben. Die Muttersprache der Erzählerin beherrscht der Gast nur unzureichend. Trotz alldem scheint sich zwischen den beiden durchaus eine gewisse Intimität einzustellen. Der Gast liegt vor dem Sofa, wenn die Erzählerin darauf sitzt, er liest ihr vor und zuweilen teilen sie die Matratze. Doch irgendwann macht selbst der Bürgermeister klar, dass es mit der Gastfreundschaft langsam mal ein Ende haben muss. Ein Gast ist eben ein Gast und dazu gehört, dass er irgendwann auch wieder abreist. Also muss er weg, aber wie sie ihn loswerden soll und ob sie ihn überhaupt loswerden will, ist der Erzählerin auch nicht klar.

Koch erzählt diese Geschichte in einem sehr schwebenden Stil, in dem nichts konkret und vieles denkbar ist. Der Gast bleibt bis zuletzt kaum greifbar, ist manchmal eher animalisch, manchmal eher menschlich und manchmal so entrückt, dass man sich fragt, ob andere ihn auch sehen können. Der Ort, in dem sich das alles zuträgt, ist ebenfalls wenig konkret. Bis auf den Berg, der das Geschehen optisch dominiert, und einer Bar, die von der Erzählerin häufig besucht wird, werden kaum Orte beschrieben. Die anderen Menschen in der Stadt werden bis auf sehr wenige Ausnahmen nur über ihre Funktionen benannt, selbst die engsten Familienmitglieder. Der Kellner, die Geschwister, die Eltern und natürlich auch: der Gast. Bis zuletzt bleibt er namenlos. So bleibt das gesamte Geschehen sehr nebulös und damit auch die Frage, wer er eigentlich ist, dieser Gast. Ein Mensch, ein Tier, ein Geflohener, ein Ausgedachter?

Wer oder was immer er ist – er gibt der Erzählerin die Chance, an ihm und der Herausforderung die er darstellt, zu wachsen. Es scheint dringend nötig zu sein, dass sie das tut, statt immer nur in dem großen Haus zu verharren und darauf zu warten, dass ihre Geschwister endlich die unliebsame Aufgabe übernehmen, sie hinauszuwerfen und damit in die Welt zu zwingen. Stilistisch merkt man dem Roman an, dass die Texte seiner Autorin sonst auf Bühnen zu Hause sind. Dialoge gibt es keine, aber viele Passagen leben von einem Rhythmus, der an gesprochene Texte und Performances erinnert und den inneren Monolog der Erzählerin in eine greifbare Form bringen.

Bei all der nebulösen Düsternis fehlt es dem Roman aber auch nicht an Humor und skurrilen Ideen, die ihre eigene Komik mitbringen. Die Aufdrängung ist sicher kein leichter Roman und man muss bereit sein, sich auf dieses Spiel mit Sprache und Deutungsmöglichkeiten einzulassen. Stringente Handlung sucht man vergebens, Eindeutigkeiten ebenfalls. Entgegen seines Titels entzieht sich dieser Roman eher, als er sich aufdrängt. Immerhin aber lässt er es zu, dass man ihm trotzdem auf die Pelle rückt. Wer diese Mühe nicht scheut und sprachliche Besonderheit schätzt, findet hier eine lohnende Herausforderung.


Ariane Koch: Die Aufdrängung. Suhrkamp 2021. 176 Seiten.

Das Zitat stammt von S. 42.

Ich danke dem Verlag für das Leseexemplar, das mir im Rahmen von Das Debüt 2021 zur Verfügung gestellt worden ist.

8 Gedanken zu “Der nebulöse Gast – „Die Aufdrängung“ von Ariane Koch”

  1. Tolle Rezension oder Besprechung! Ich dachte ja meistens an eine sehr parabelhafte Darstellung des Covid-Viruses, hier und da – ein Gast, der zum ‚home office‘ wird, also ein ‚home office‘, das zuerst angenehm erscheint, aber immer ärgerlich wird – als nur eine Variante der windschiefen Lesarten. Für mich eine tolle Entdeckung und ein Buch, das sich sogar zweimal zu lesen lohnt, um die Bezüge besser verstehen zu lernen. Der Ton deiner Rezension hat dem Buch sehr wohl entsprochen! Viele Grüße.

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    1. Vielen Dank! Es ist mir in diesem Fall wirklich schwer gefallen, meine Meinung in Worte zu bringen 🙂
      Home Office finde ich auch eine sehr spannende Lesart. Ich wäre nicht drauf gekommen, aber passend wäre es!

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