Verzweifelter Roadtrip – „Das Ungeheuer“ von Terézia Mora

Darius Kopp ist am Boden. Seine Frau und große Liebe Flora hat sich umgebracht. Ein Jahr ist das nun her. Ein Jahr, in dem er seine Wohnung nicht verlassen hat, nicht gearbeitet hat und immer noch keine Antwort darauf gefunden hat, wie es soweit kommen konnte und wie es weitergehen soll. Immer mehr Menschen bedrängen ihn, endlich aus seiner Trauer zu erwachen, endlich mal wieder zu duschen, einen neuen Job zu finden und sich zu überlegen, was mit der Asche seiner Frau passieren soll. Darius weiß es nicht.

Auf dem Laptop seiner Frau hat er Dateien gefunden, fast alle in ihrer Muttersprache Ungarisch verfasst. Er lässt sie übersetzen und dann fährt er los, auf der Suche nach einer Antwort und einem Ort, an dem Flora ihre letzte Ruhe finden kann. Er reist nach Budapest, von dort in das kleine Dorf, in dem sie aufgewachsen ist und dann, als er auch dort keine Lösungen findet, immer weiter, über Kroatien, Albanien, in die Türkei und nach Griechenland und schließlich nach Georgien. Die Asche hat er sich für eine gar nicht geringe „Gebühr“ nach Ungarn liefern lassen und weiß noch immer nicht, wohin damit, als er das Land schon wieder verlässt. Die Urne bleibt in seinem Kofferraum und begleitet ihn auf jeder Station seiner Reise.

So wie auch Floras Laptop, dessen Dateien er systematisch durchforstet. Er findet Bruchstücke von Übersetzungen, Texte über psychische Erkrankungen, Gedichte und Tagebucheinträge. Gestalterisch sind die beiden Texte durch eine dicke schwarze Linie getrennt: Auf der oberen Hälfte jeder Seite kann man Darius Irrfahrt durch Osteuropa verfolgen, auf der unteren Hälfte Floras Texte und Dateien lesen. Wie genau man das angeht, wie man die beiden Ebenen in eine Beziehung bringt, bleibt einem weitestgehend selbst überlassen. Eine Kapitelnummerierung ist vorhanden, folgen muss man ihr aber nicht. Die Texte begleiten einander nicht durchgehend, auf vielen Seiten schweigt Flora und man folgt nur Darius Reise und Gedanken. Aber auch so wird deutlich, dass Floras Leben schon lange nicht mehr sicher war. Schon sehr lange hat sie sich mit Suizid-Gedanken getragen, hat auch erkannt, dass sie psychisch erkrankt war, konnte aber nicht dagegen ankommen und nicht die Hilfe finden, die sie gebraucht hätte. Die letzten Monate vor ihrem Tod hat sie den Laptop gar nicht mehr benutzt und keine Aufzeichnungen mehr hinterlassen. Stattdessen lebte sie vor den Toren Berlins auf einem Aussteigerhof, arbeitete im Garten, ging spazieren und kam ihrem Mann immer mehr vor wie eine entrückte Vogelscheuche. Immer weniger Verständnis hatten die beiden füreinander, immer deutlicher wird der Bruch in Darius Schilderungen, aber auch seine Verzweiflung über die Situation.

„Die Wahrheit ist: du kannst dich bemühen, ein gelungenes Leben zu führen, demütig, ausdauernd, umsichtig. Wenn die Krankheit zuschlägt, ist das alles vollkommen für die Katz.“

Mehr und mehr fragt man sich, wie das alles so lange hat gutgehen können, wie die Ehe der beiden so lange halten konnte. Das Ungeheuer ist ein fordernder Roman. Formal, weil er einem eine gewöhnungsbedürftige Art der Lektüre abverlangt, aber auch inhaltlich. Es fühlt sich fast falsch an, Floras Dateien zu lassen, die sie mutmaßlich auf Ungarisch verfasst hat, um ihren Mann vom Lesen abzuhalten. Und Unbekannte erst recht. Aber es ist der einzige Weg, sie kennenzulernen, denn selber erzählen oder auch nur selber da sein kann sie ja nun nicht mehr. Die Geschichte der beiden ist tragisch und mit jeder Grenze, die Darius überschreitet, kommt noch etwas mehr ans Licht. Nach und nach kommt die Geschichte zweier Leben ans Licht, die einfach nicht zusammen geführt werden konnten. Das verdeutlicht auch der dicke Strich zwischen den beiden, der sich den gesamten Roman lang durchzieht. Flora bleibt fremd, auch ihrem Mann, der erst während seiner Reise erkennt, wie fremd sie ihm wirklich war. So wirft sein Roadtrip denn auch mehr Fragen auf, als er beantworten kann.


tl;dr: Eine traurige, düstere Geschichte über das tragische Ende einer Liebe, die vor allem durch ihren ungewöhnlichen Aufbau überzeugt.


Terézia Mora: Das Ungeheuer. Luchterhand 2013. 681 Seiten.

Das Zitat stammt von S. 439.

3 Gedanken zu “Verzweifelter Roadtrip – „Das Ungeheuer“ von Terézia Mora

  1. soerenheim 18. Januar 2022 / 16:38

    Ich habe dunkelste Erinnerungen an das Buch… interessant, auch vll ein bisschen lang.
    Damit meine Erinnerungen nicht mehr so dunkelt sind hab ich überhaupt mit der Rezensiererei angefangen. Aber ich glaube das hab ich früher gelesen…

    Gefällt 1 Person

    • schiefgelesen 19. Januar 2022 / 8:31

      „Interessant, auch vielleicht ein bisschen lang“ fasst es schon sehr gut zusammen. Ich finde, die Geschichte gibt gerade so genug her für die Länge des Buchs. Ohne diesen zweigeteilten Aufbau wäre es hoffnungslos langatmig gewesen.

      Like

  2. Alexander Carmele 18. Januar 2022 / 18:50

    Hab das Buch direkt auf meinem Bücherstapel neben mir auf dem Tisch und bin allein vom Druckbild begeistert. Mich begeistern einfach Versuche, die Sprache, den Roman, die Textfreude über sich hinausgehen und Grenzen überschreiten zu lassen. Dass es ein dunkler Roman werden wird, war mir klar. Nomen est omen, aber schon die ersten Seiten zeigen eine wonnige Sprachwucht, die mir oft fehlt und mich an Bachmanns „Malina“ denken lässt.

    Gefällt 3 Personen

Was sagst du dazu?

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..