Die Unzertrennlichen – „Als hätten sie Land betreten“ von Claudia Sammer

In ihrer Kindheit und Jugend sind Veza und Lotti unzertrennlich. Sie verbringen jeden Tag miteinander, schreiben sich lange Briefe und es ist beiden klar, dass ihre Freundschaft ewig dauern wird. Doch mit dem Erstarken der Nationalsozialisten in den 1930er Jahren muss die jüdische Veza bald erkennen, dass ihr Leben anders verlaufen wird, als erhofft. Sie versucht sich mit einer Konvertierung zum Christentum zu retten und tritt sogar in ein Kloster der Karmeliterinnen ein, sehr zum Ärger ihrer Familie und dem Unverständnis ihrer Freundin Lotti. Die Flucht gelingt Veza nicht. Lotti aber vergisst die Freundin ihr Leben lang nicht. 

„Im unmittelbaren Spüren war die innere Ordnung intakt, sie hatten festen Boden unter den Füßen, es war, als hätten sie Land betreten. Sie würden im Gleichschritt gehen, sie würde studieren, lesen und lernen, sie würden arbeiten und ihr eigenes Geld verdienen.“

Diese Freundschaft nimmt Claudia Sammer in ihrem Roman als Ausgangspunkt um über das Leben von sechs Frauen zu schreiben, die meisten davon aus Lottis Familie und Vertreterinnen ganz unterschiedlicher Generationen. Ihre Leben werden nicht strikt chronologisch behandelt, sondern episodenhaft beleuchtet, wobei bei allen die Frage von Abhängigkeiten und Selbstbestimmung zentral ist. 

Was das für die Frauen jeweils bedeutet, ist höchst unterschiedlich. Für Schwester Dorothea, die Veza im Kloster kennenlernt, ist die Unterwerfung unter die Regeln des Ordens zugleich eine ungeheure Befreiung. Für Lottis Tante Alma hingegen ist ihr Auto das größte Symbol persönlicher Freiheit in einer Zeit, als ein Führerschein in Frauenhand noch ein kleiner Skandal ist. Anderen wiederum gelingt die eigene Befreiung aus Pflichten und unglücklichen Ehen erst sehr spät. Sammers Roman bringt einem die verschiedenen Biographien nahe, die in ihrer Gesamtheit auch ein Stück Frauengeschichte darstellen. In kurzen Kapiteln entwickelt Sammer diese sehr verschiedenen Perspektiven in einer symbolträchtigen, poetischen und zugleich verdichteten Sprache. 

Als hätten sie Land betreten ist ein vielschichtiger Roman über die tiefe Verbundenheit mit anderen, aber auch über die Frage, an welchen Stellen man diese vielleicht verletzen oder riskieren muss, um den eigenen Weg zu gehen. Die Biographien der Frauen sind denn auch stellenweise nur so lose verbunden, dass sich ihre jeweiligen Episoden mitunter fast wie unabhängige Erzählungen lesen. Der Kitt, der das alles zu einem Roman macht, fehlt hin und wieder, was zu Lasten des Spannungsbogens geht. Doch entscheidend ist in diesem Roman auch gar nicht die Handlung, sondern der Gleichschritt, in dem die Frauen gehen, meist ohne es zu merken. Sie arbeiten alle an ähnlichen Konflikten und Fragen, können sich ergänzen und anstoßen, denn sie kennen die Motive der anderen. Nur Lotti hat mit Veza ein so geheimes wie entscheidendes Motiv, das ihr ganzes Leben trägt.


Claudia Sammer: Als hätten sie Land betreten. braumüller 2020. 176 Seiten.

Das Zitat stammt von S. 17.

Ich danke dem Verlag für das Leseexemplar.