Nicole Krauss‘ dritter Roman Great House handelt von vier sehr verschiedenen Personen, die jeweils für sich ihre Geschichte erzählen, alle verknüpft durch einen Schreibtisch mit 19 Schubladen unterschiedlicher Größe. Es ist ein riesiges und dunkles Möbelstück, gemacht für ein beeindruckendes Arbeitszimmer, das in den kleinen Wohnungen späterer Nutzer*innen fehl am Platz und manchmal fast bedrohlich wirkt.
Die erste Besitzerin, die man kennenlernt ist Autorin Nadia, die nur vorübergehend auf den Schreibtisch aufpassen soll, während sein Eigentümer Daniel Varsky sich in Chile aufhält. Doch dort gerät er in die Fänge des Pinochet-Regimes und verschwindet spurlos. Erst 25 Jahre später steht eine Frau vor der Tür, die behauptet, Varskys Tochter zu sein und den Schreibtisch für sich beansprucht. Damit beginnt ein Roman, der die Biographien von Menschen in den USA, Israel und Großbritannien verknüpft, deren Leben auf die eine oder andere Art von diesem Schreibtisch berührt wurden. Damit einher geht eine Geschichte Europas, die stark von den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust geprägt ist.
„Here in this house live two different species, one on land and one in the water, one who clings to the surface and the other who lurks in the depths, and yet every night, through a loophole in the laws of physics, they share the same bed.“
Die Erzählstimmen unterscheiden sich deutlich voneinander, was Abwechslung in den Roman bringt. Der mittlere Teil, eine Geschichte der Geschwister Yoav und Leah, liest sich beinahe, als hätte Donna Tartt ihn geschrieben. Die beiden sind Kinder eines legendären Antiquitätenhändlers, der sich auf geraubten Besitz jüdischer Familien spezialisiert hat und leben in der wohlhabenden Abgeschiedenheit eines einsamen Herrenhauses, unterbrochen von gelegentlichen Jet-Set-Episoden. Nadias Geschichte hingegen ist ein einziges langes Geständnis, dessen Grund lange im Dunkeln bleibt, gerichtet an eine Person, die sie mit „Your Honor“ anspricht. Alles daran ist eine Entschuldigung, die gar nicht nötig zu sein scheint. Den Erzählungen ist gemein, dass sie einen eher düsteren, ruhigen Ton haben, nur die eines israelischen Anwalts sticht in ihrer Rage und Verzweiflung hervor. Wie auch The History of Love speist dieser Roman sich vor allem aus Erinnerungen. Die eigentliche Handlung ist in fast allen Erzählsträngen minimal und beschränkt sich oft auf den weiteren Werdegang des Schreibtischs. Was zählt, ist die Vergangenheit, die bei allen Charakteren mehr oder weniger traumatisch ist. Einige erzählen bereitwillig davon, andere verdrängen sie so erfolgreich, dass selbst ihre Ehepartner*innen nur einen Bruchteil davon kennen.
Bei aller positiv hervorzuhebender Abwechslung aber führen die vielen einzelnen Geschichten auch dazu, dass dem Roman ein größerer, gemeinsamer Spannungsbogen fehlt. Nichts treibt die Handlung voran, so gut die einzelnen Episoden auch lesbar sind. Bis ich in der Mitte angekommen war, hatte ich fast vergessen, dass es einen Schreibtisch gibt und eine Autorin namens Nadia, die daran ihre Romane schreibt, so sehr ist man zu diesem Zeitpunkt schon in die Erinnerungen ganz anderer Menschen eingetaucht, die mit ganz anderen Dingen befasst sind. Wenn man allerdings dadurch in Versuchung gerät, das ganze als Kurzgeschichtensammlung zu lesen, ist man am Ende ziemlich aufgeschmissen, weil doch alles irgendwie zusammenhängt. So bleibt es ein Roman, dessen Einzelteile ich zum Teil sehr mochte, dessen Grundgerüst ihn aber nicht trägt.
tl;dr: Great House erzählt vier Biographien, die als Kurzgeschichtensammlung besser funktioniert hätten.
Nicole Kraus: Great House. Penguin 2010. 289 Seiten. Erstausgabe W. W. Norton 2010. Eine deutsche Ausgabe von Grete Osterwald ist unter dem Titel Das große Haus bei rororo lieferbar.
Das Zitat stammt von S. 193.
2011 war Krauss mit Great House auf der Shortlist des Orange Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Womens Prize for Ficition.