Ich weiß nicht, ob Nicole Krauss und Jonathan Safran Foer zu viel oder zu wenig über ihre jeweiligen Bücher gesprochen haben, aber 2005 haben sie den gleichen Roman veröffentlicht. Ein Kind, dessen Vater früh verstorben ist, fährt kreuz und quer durch New York auf der Suche nach Hinweisen, die ihm bei der Lösung eines Rätsels helfen können. Eine Schtetl-Geschichte kommt vor und natürlich geht es um die ganz große Liebe. Zwischendurch gibt es formale Extravaganzen wie Seiten, auf denen nur ein einziger Satz steht.
Was bei Extremely Loud and Incredibly Close Oskar Schell war, ist in The History of Love Alma Singer. Almas Vater ist früh an einer Krankheit gestorben und sie lebt nun mit ihre Mutter und ihrem Bruder Bird in New York. Bird glaubt, einer der 36 Gerechten zu sein, baut eine Arche für die bevorstehende Flut und muss einmal wöchentlich mit einem Psychologen darüber sprechen. Alma hält die Erinnerung an ihren Vater aufrecht, indem sie alles über essbare Pflanzen in der Wildnis lernt und in einem Daunenschlafsack schläft, so wie ihr Vater es angeblich einst getan hat.
Am anderen Ende von New York lebt Leopold Gursky. Gursky ist im Schtetl aufgewachsen, konnte gerade noch der SS entkommen und wohnt nun in einer vollgestopften Wohnung genau unter der seines bestens Freunds Bruno. Im Schtetl liebte er ein Mädchen namens Alma, die Jahre vor ihm nach New York kam und die, als er endlich vor ihrer Tür stand, schon nicht mehr Mereminski sondern Moritz hieß und glaubte, er sei tot. Leos Sohn Isaac wächst nicht als Gursky auf und weiß nichts von seinem leiblichen Vater.
„I’m saying life is a thing of beauty, Bruno. A thing of beauty and a joy forever.“
Alma ist auch das Mädchen in einem Roman mit dem Titel The History of Love, der Alma Singers Vater sehr wichtig war, und nach dessen Protagonistin er seine Tochter benannte. Das Buch wurde von Zvi Litvinoff veröffentlicht, der nach seiner Flucht aus Europa in Chile lebte. Das jiddische Original in Litvinoffs Handschrift wurde zerstört, nur die spanische Übersetzung seiner Frau Rosa existiert noch. Nun schreibt ein Mann einen Brief an Almas Mutter, die Übersetzerin ist, und bittet sie, das spanische Buch ins englische zu übersetzen. Er will es nicht veröffentlichen, er will es nur lesen können, und er bietet eine absurde Menge Geld dafür. Das stachelt Alma Singers detektivischen Ehrgeiz an. Was an diesem Buch ist so wichtig, dass der mysteriöse Auftraggeber sich eine Privatübersetzung leistet?
The History of Love ist eine sehr, sehr rührendes Buch. Es geht – natürlich – um die Liebe, um Freundschaften und Geschwisterliebe, um unerfüllte Liebe, abgewiesene Annäherungen und das Sehnen nach einem Menschen, der für immer verloren ist, oder den man nie haben konnte. Diese Erfahrungen machen alle Figuren auf die ein oder andere Weise, die schönen wie die traurigen. Nicole Krauss versteht es, ohne große Worte und ohne viel Pathos große Emotionen zu beschreiben. Manchmal, besonders wenn Textstellen aus dem gleichnamigen Roman im Roman zitiert werden, kommt Krauss dem Kitsch gefährlich nahe, dreht aber meistens rechtzeitig ab. Einige dieser Passagen sind aber schon beinahe esoterisch. Ihre große Stärke liegt in einer enormen und sehr selbstverständlichen Zärtlichkeit, mit der sie ihre Figuren und deren Begegnungen ausstattet. So filigran die Beziehungen konstruiert werden, so plötzlich und unvermittelt kommt dann aber doch das Ende des Romans, und das ist auch tatsächlich mein größter Kritikpunkt. Die mühsam aufgebaute Suche nach der Wahrheit findet ein derart abruptes Ende, dass man fast unsanft wachgerüttelt wird. Diese Geschichte der Liebe hätte nun wirklich einen sanfteren Ausklang verdient.
Nicole Krauss: The History of Love. Norton 2006. 252 Seiten. Erstausgabe Norton 2005. Lieferbar bei Penguin Essentials, ca. € 9,50. Deutsche Übersetzung von Grete Osterwald unter der dem Titel Die Geschichte der Liebe lieferbar bei rororo.
Das Zitat stammt von S. 77
2006 war Nicole Krauss mit diesem Roman auf der Shortlist des Orange Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.
Sie haben dasselbe Buch geschrieben – exakt! Ich habe beide Bücher ungefähr zur selben Zeit kurz nach Erscheinen gelesen und im Nachhinein hatte ich immer Schwierigkeiten, sie auseinander zu halten. Wenn ich mich an ein kleines Detail erinnert habe, hätte es sowohl in dem einen, als auch in dem anderen Buch stehen können, ich wusste es oft nicht. Die Atmosphäre, die Charaktere, alles ähnelte sich so sehr. Damals fand ich beide Bücher wahnsinnig gut, aber als ich vor einigen Monaten noch mal hineingelesen habe, konnte ich das gar nicht mehr nachvollziehen.
LikeGefällt 2 Personen
Foers Buch fand ich kurz nach Erscheinen auch wahnsinnig beeindruckend. Ich glaube, heute fände ich es, wie auch Krauss Roman, irgendwo in der Nähe von ganz gut.
LikeGefällt 2 Personen
Ich mochte es sehr… aber die Lektüre ist so lang her, danke für die Erinnerung!
LikeGefällt 2 Personen
Ich habe die deutsche Übersetzung gelesen und Du bringst auch meine Meinung auf den Punkt. Das Ende war etwas unpassend.
LikeGefällt 2 Personen
Interessant – mir war Nicole Krauss nicht wirklich ein Begriff. Super Besprechung, danke dafür.
LikeGefällt 1 Person
Mir vor diesem Roman auch nicht so richtig. Zumindest in Deutschland ist sie auch einfach nicht sehr bekannt.
LikeGefällt 1 Person