Mörderjagd am Mississippi – „The Little Friend“ von Donna Tartt

Harriet ist erst wenige Monate alt, als ihr neunjähriger Bruder Robin im Garten der Familie ums Leben kommt. Es sieht nach einem Unfall aus, doch schnell werden die ersten Stimmen laut, die überzeugt sind, dass es sich um einen Mord handelt. Die Ermittlungen laufen ins Nichts und irgendwann wird der Fall zu den Akten gelegt. Zwölf Jahre später ist Harriet ein mutiges, kluges, belesenes und starrköpfiges Mädchen geworden und setzt es sich in den Kopf, in ihren Sommerferien aufzuklären, wer ihren Bruder auf dem Gewissen hat. Das ist gar nicht so leicht, denn in ihrer Familie gilt der Tod des Jungen als Tabu.

„Harriet’s house was a sleepy house – for everybody but Harriet, who was wakeful and alert by nature.“

Zusammen mit ihrem besten Freund Haley hat sie aber schnell einen ersten Verdächtigen ausgemacht: Danny Ratliff, der mit ihrem Bruder in eine Klasse ging und am Tag seines Todes in der Nähe gesehen wurde. Mittlerweile lebt er mit seinen drei Brüdern und seiner Großmutter in einem Trailer, ist drogenabhängig und in diverse halbseidene Geschäfte verwickelt. Welche Kettenreaktion ihre Ermittlungen auslösen werden, ahnt Harriet nicht, als sie anfängt, die Ratliffs auszuspionieren.

Harriets Familie ist eine gestürzte Südstaaten-Dynastie, die bis vor einer Generation noch auf einem Landgut lebte und Hausangestellte noch immer für selbstverständlich hält. Harriets Mutter allerdings hat von diesem Glamour nicht viel bewahren können. Nach Robins Tod zieht der Vater nach Nashville, lässt sich nur noch höchst selten blicken und der Haushalt gerät, trotz angestellter Hilfe, ziemlich außer Kontrolle. Dem gegenüber steht die Familie Ratliff, die ihren Lebensunterhalt vor allem durch Herstellung und Vertrieb von Meth verdient und eine eindrucksvolle Biographie vorzuweisen hat, bestehend vor allem aus Gefängnisaufenthalten und kruden Erweckungserlebnissen. The Little Friend spielt in den 70er Jahren in der fiktiven Stadt Alexandria, Mississippi und ist eine Mischung aus Southern Gothic, Jugend-Detektivbande und Familiengeschichte.

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Manchmal entgleitet Tartt diese Mischung etwas. Es gelingt ihr aber großartig, die drückende, bedrohlich wirkende Atmosphäre des heißen Sommers ins Mississippi einzufangen. Die Geschichte entwickelt sich so träge wie ein schwüler Sommertag, was nicht zu ihrem Nachteil ist. Wenn man nach dem Klappentext einen temporeichen Thriller erwartet, ist man allerdings zwangsläufig enttäuscht. Statt mit spannungsgeladenen Ermittlungen versorgt Tartt einen mit Charakterisierungen von Figuren und Landschaft und Hintergrundgeschichten. Keiner der Charaktere bleibt nebensächlich und flach. Die vermeintlich harmlosen Detektivspiele von Haley und Harriet stehen im Kontrast zur gnadenlos brutalen Welt der Ratliffs und dem Leben in den schlechteren, ärmeren Vierteln der Stadt. Harriet ist ausgesprochen smart und mutig und es gelingt ihr meistens, sich auch aus vertrackten Situationen herauszuwieseln. Ihre großen Vorbilder sind Entdecker und Forscher und ihr zweites ehrgeiziges Ziel des Sommers ist es, die Luft so lange anhalten zu können wie der Entfesselungskünstler Houdini. Manchmal aber scheinen ihre Tapferkeit und Furchtlosigkeit ein bisschen viel zu sein für ein Mädchen ihres Alters und ihrer Herkunft.

The Little Friend entwickelt sich nach einem sehr straighten Start immer mehr zu einer verzweigten, sich weit ausbreitenden Südstaaten-Geschichte mit sorgfältigen, detaillierten und treffenden Schilderungen von Personen und Setting. Die Geschichte bietet mit ihrer Fülle an Nebenhandlungen und Hintergründen fast schon Stoff für zwei oder drei Romane, was Tartt in vielen Kritiken auch als fehlender Fokus vorgehalten wurde. Tatsächlich gerät die Suche nach Robins Mörder über weite Strecken eigentlich zur Nebensache. Da aber auch die Nebenhandlungen einiges zu bieten haben, verliert das Buch dadurch nicht an Reiz. Dennoch muss man ein wenig Geduld aufbringen für diese Detektivgeschichte, die fast keine ist, und sich einlassen wollen auf die vielen minutiösen Beschreibungen jeder Situation.


tl;dr: The Little Friend ist ein Roman, in dem vordergründig eine Zwölfjährige nach dem Mörder ihres Bruders sucht. Allerdings ist der Roman kein Thriller, sondern eher eine Mischung aus Detektivgeschichte und Southern Gothic. Statt spannungsgeladener Action gibt es minutiöse Schilderungen von Szenen, die aber sehr zur gelungen Atmosphäre beitragen.


Donna Tartt: The Little Friend. Gelesen in der Ausgabe Vintage 2003. 624 Seiten. Erstausgabe Alfred A. Knopf 2002. Eine deutsche Übersetzung von Rainer Schmidt ist unter dem Titel Der kleine Freund bei Goldmann lieferbar.

Das Zitat stammt von S. 69.

Mit diesem Roman war Tartt 2003 auf der Shortlist des Orange Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojektes Women’s Prize for Fiction.

3 Gedanken zu “Mörderjagd am Mississippi – „The Little Friend“ von Donna Tartt”

  1. Ich habe sowohl den bekannten Distelfink als auch Die geheime Geschichte von Donna Tartt sehr, sehr gerne gelesen und war gerade überrascht, auf deinem Blog von dieser Geschichte von ihr zu lesen. Erst recht, weil der Roman ja bereits vor ein paar Jahren erschienen ist – wie gut, dass ich daher jetzt auf deinen Blog aufmerksam geworden bin. 🙂
    Ich mag das sehr, wenn Autor/innen es schaffen, atmosphärisch dichte Erzählungen zu erschaffen, auch wenn es dann manchmal auf Kosten des Tempos geht. Von daher freue ich mich – auch aufgrund deiner Rezension – sehr darauf, den Band demnächst hoffentlich mal in die Hand zu nehmen. 🙂

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    1. Wie schön, dass das noch entdeckt hast. Ich habe alle Roman von Tartt sehr gerne gelesen. Mein Favorit war allerdings Die geheime Geschichte.

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