Georgien scheint weit weg zu sein, als die Nachrichten einer dortigen Grippe-Welle die USA erreichen. Ein besonders aggressiver Erreger der Schweinegrippe ist mutiert und befällt nun auch Menschen. Wer die ersten Krankheits-Symptome zeigt, hat noch 24 bis 48 Stunden zu leben, eine Heilung gibt es nicht, auch keine Impung. Als die erste Maschine mit Infizierten aus Moskau eintrifft, ist es schon lange zu spät. Die Seuche breitet sich rasant über den ganzen Kontinent, die ganze Welt aus und tötet fast alle, die auf ihr leben.
Die wenigen, die es schaffen, hoffen noch einige Wochen auf Rettung und beginnen dann, in der völlig veränderten Welt ein neues Leben aufzubauen. Einige von ihnen finden sich in einer Art Wanderzirkus zusammen. Sie tingeln durch Kanada und den Norden der USA, tauschen Shakespeare-Stücke und Symphonie-Konzerte gegen Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Bedarfs. Doch ihre Wege sind voller Gefahren. Die neue Gesellschaft ist auch zwanzig Jahre später noch im Aufbau, neue Siedlungen entstehen, andere brechen zusammen und nicht alle wollen ihren Lebensunterhalt mit ehrlichen Mitteln bestreiten.
„There was the flu that exploded like a neutron bomb over the surface of the earth and the shock of the collapse that followed, the first unspeakable years when everyone was travelling, before everyone caught on that there was no place they could walk to where life continued as it had before and settled wherever they could, clustered close together for safety in truck stops and former restaurants and old motels.“
Unterbrochen und ergänzt wird die Erzählung des Postapokalyptischen von Geschichten der Zeit davor, vor allem aus dem Leben des Schauspielers Arthur Leander. Den Ausbruch der Seuche hat er dank eines Herzinfarkts knapp verpasst, im Roman spielt er aber eine große Rolle. Kirsten, in ihrem neuen Leben Mitglied des Wanderzirkus, kannte ihn in ihrer Kindheit und hat ihm ein wertvolles Geschenk zu verdanken: Von ihm hat sie „Station Eleven“, einen Comic, der auf einem Raumschiff spielt und von einem Mann handelt, der sein Leben auf der Erde vermisst. Dieses Heft begleitet sie seitdem, sie ist geradezu besessen davon und es war eines der wenigen Dinge, die sie mitgenommen hat, als sie als Achtjährige aus Toronto fliehen musste. Sonst bleibt ihr, wie auch den meisten anderen, fast nichts. Nicht einmal viele Erinnerungen hat sie noch an das Davor. Das erste Jahr nach der Flucht hat sie komplett vergessen, ebenso wie die Gesichter ihrer Eltern. Was zählt sind ihre neuen Wegbegleiter*innen und, öfter als ihr lieb ist, ihre Messer-Werf-Skills.
Emily St John Mandel gelingt es, die beiden Erzählstränge harmonisch und in den richtigen Momenten ineinandergreifen zu lassen. Mit Vorausdeutungen gibt sie der Geschichte eine klare Richtung, ohne die Spannung zu nehmen. In Station Eleven erscheint das Leben, das wir jetzt führen, nicht als die einzig denkbare Weltordnung, sondern als eine Ära, die einst zu Ende sein wird, so wie es viele andere vor ihr auch waren. Die Ära der Mobiltelefone, die Ära der Flugreisen – was an einem Tag noch selbstverständlich erscheint, ist eine Woche später ein Wunschtraum und zwei Dekaden später ein absurdes Konzept, das alle, die nicht dabei waren, kaum mehr begreifen können.
An einigen Stellen kippt der Roman allerdings beinahe ins Kitschige. Das passiert allerdings selten in der postapokalyptischen Welt, die dafür zu hart ist, sondern fast immer davor und zwar vor allem dann, wenn es um vertane Möglichkeiten geht. Hätte man doch, bevor die Grippe alle umgebracht hat, noch eben diesen einen Konflikt beigelegt, noch einmal den besten Freund angerufen, noch einmal den besten Kaffee der Stadt getrunken, sich eben nicht darauf verlassen, dass noch Zeit sein wird, dass es noch eine andere Gelegenheit geben wird. Diese Message könnte vielleicht so ein, zwei mal seltener vorkommen.
Ansonsten habe ich sehr wenig an diesem Roman auszusetzen. Ich wüsste gerne noch, warum überhaupt niemand in Nordamerika eine Wassermühle bauen kann und ob es eigentlich keinen einzigen Holz-Generator mehr in der ganzen Gegend gab, aber ansonsten bin ich sehr zufrieden. St John Mandel umschifft geschickt Klischees und die meisten Kitsch-Klippen und liefert eine kluge, unterhaltsame und gut geschriebene Apokalypse, die zum Glück ganz ohne Zombies auskommt. Wer tot ist, ist in diesem Roman ausnahmsweise mal wirklich tot und lungert nicht hinter dunklen Ecken herum. Umso beklemmender liest sich der Roman, da das Szenario so völlig denkbar zu sein scheint.
Vielleicht auch interessant:
Wer Lust auf kluge Apokalypse, aber auch auf Zombies hat, dem sei Olivia A. Coles „Tasha-Reihe“ wärmstens empfohlen. Bisher sind die Bände Panther in the Hive und The Rooster’s Garden erschienen.
Emily St. John Mandel: Station Eleven. Picador 2015. 333 Seiten. Erstausgabe Alfred A. Knopf 2014. Eine deutsche Übersetzung von Wibke Kuhn ist unter dem Titel Das Licht der letzten Tage bei Piper lieferbar.
Das Zitat stammt von S. 37.
Eine meiner allerliebsten Dystopien 🙂
LikeGefällt 1 Person
Ich muss ja zugeben, dass mich der – für meine Begriffe – kitschige deutsche Titel lange abgeschreckt hat. Aber es ist tatsächlich ein tolles Buch.
LikeGefällt 1 Person
Diese Supervirus-Szenarien finde ich ja immer etwas bemüht… das dürfte dann eigentlich keine Mutation sein, sondern müsste was für die Erde völlig neues sein, um den Großteil der Bevölkerung zu erwischen (ist eigtl nur einmal beobachtet worden, die Pocken & andere eingeschleppte Krankheiten auf dem amerikanischen Kontinent). Aber ansonsten klingt es recht interessant.
LikeLike
Das stimmt. Selbst die Pest hat nur ein Drittel geschafft und hat Jahre gebraucht. Aber irgendwas muss die Menschheit ja dahinraffen. Dennoch: gern gelesen.
LikeGefällt 1 Person
Mein Favorisiertes Szenario geht derzeit so:
„Also, wie Sie dann diese… wie nannten Sie sie noch, „Faschos“ überall an die Macht gebracht haben, nur um die sich dann 10 Jahre mit dem Ausfall der letzten Antibiotika rumschlagen zu lassen. Und dann, gerade als ein Durchbruch nahe scheint, fliegt der ganze Planet bei dem Versuch in die Luft, ihn gegen den selbstverursachten Klimawandel durch kontrollierte Atomexplosionen abzudunkeln. Nein, wirklich, diese Pointe… einfach genial! Der Interstelare Comedypreis geht auch diesmal wieder an Gottfried-Ottokar von Trippen-Traußen für sein Live-Projekt „ERDE*“. Er ist natürlich besser bekannt unter seinem galaktischen Pseudonym „GOTT“. Herzlichen Glückwunsch!“
*Erbärmlich Redundante Doofheits-Eumel
LikeLike