Brutalität, Fragilität und ein sehr eigenwilliger Stil – „A Girl is a Half-formed Thing“ von Eimear McBride

Eimear McBride macht in ihrem Debüt-Roman keine halben Sache. Der gesamte Roman ist in einem einzigen stream of consciousness geschrieben. Nachdem ich auf den ersten drei Seiten nichts verstanden hatte, außer dass es jemandem nicht sehr gut geht und jemand anders deswegen traurig ist, dachte ich noch, das sei nicht so wild. Niemand, also wirklich absolut niemand, schreibt einen 200 Seiten langen Bewusstseinsstrom und sagt dann „seht her, mein Roman“. An irgendeinem Punkt würde das aufhören. Würden. Ganze Sätze kommen. Und weniger. Die Sprünge weniger. Aber nein, das passiert nicht. Dennoch hat McBride es geschafft, mich ab Kapitel 2 völlig mitzunehmen. Da hatte ich aufgegeben. Wer in Kapitel 2 auch noch  stream of consciousness schreibt, wird bei Kapitel 3 nicht aufhören. Also Augen zu, noch einmal tief Luft holen und fallen lassen in das dahinströmende Bewusstsein der Protagonistin.

„We don’t know the world but want and want and on the very tip of the tongue I’d fly away if I could. With her. It is our love affair. How we’d be. Who we think we are beneath royal blue jerseys and pleated skirts. Icon in the making me someone new tell every single one at school to go to fuckung hell.“

Wenn man das macht, folgt man einem nicht benannten Mädchen durch rund zwanzig traumatische Jahre. Sie wächst in einem kleinen Nest in Irland auf, als Tochter einer fast manisch gläubigen Katholikin, der Vater ist schon lange weg. Namen gibt es nicht in diesem Roman. He, she, you – das persönliche Umfeld der Protagonistin muss sich mit Personalpronomen zufrieden geben. Die meisten Leute sind sowieso nicht von großer Bedeutung, verletzen sie, körperlich wie seelisch, und werden zu keiner festen Größe in ihrem Leben. Außer you. You ist ihr Bruder, der jung an einem Gehirntumor erkrankt ist, diverse Operationen über sich hat ergehen lassen müssen und nun mit etlichen Schritten in seiner Entwicklung zu kämpfen hat. Jeder Spott, jede Hänselei die er über sich ergehen lässt, trifft auch seine Schwester. Das sind aber bei weitem nicht die einzigen Verletzungen, die sie in ihrem Leben erfahren wird.

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Im Alter von 13 Jahren wird die Protagonistin das erste mal von einem Verwandten sexuell missbraucht. Es wird die nächsten Jahre so weitergehen. Das im stream of conciousness zu lesen ist schon extrem nah und wird sicher für einige zu brutal sein, das an dieser Stelle zur Warnung. Aber auch darüberhinaus spart der Roman nicht mit emotionalen Ausnahmesituationen. Der Gehirntumor des Bruders kehrt in späteren Jahren zurück und während die Mutter mit Hilfe des Gebetskreises göttliche Heilung sucht, harrt die Schwester am Krankenbett aus, unfähig dem eigenen Schmerz die Stirn zu bieten. Ihre Verzweiflung, das rastlose Suchen nach Hoffnung und Möglichkeit hat eine eigene Brutalität, zeugt vor allem aber von bedingungsloser Liebe für den Bruder und einer Ratlosigkeit, wie und ob es ohne ihn weitergehen kann.

A Girl is a Half-formed Thing ist kein leichter Roman. Das liegt zum einen an der Thematik, aber auch am Stil. Stream of conciousness liest sich nicht leicht, man muss sich erstmal einfinden in die Gedankenwelt der Erzählenden und wahnsinnig viele Leerstellen selber füllen und sich erarbeiten, worum es gerade geht. Dafür schafft es aber auch eine große Unmittelbarkeit, die spannend ist, in diesem Fall aber auch weh tut. Die Protagonistin lässt einen teilhaben an verschiedenen Episoden ihres Aufwachsens und sie wählt dafür nicht die schönsten aus. Eine lineare Handlung und Gewissheit sucht man hier vergebens. Wer darauf aber sowieso verzichten kann, findet hier einen seltenen, experimentierfreudigen und mutigen Roman.


Eimear McBride: A Girl is a Half-formed Thing. Faber & Faber 2014. 204 Seiten. Erstausgabe Galley Beggar Press 2013. Eine deutsche Übersetzung von Miriam Mandelkow ist unter dem Titel Das Mädchen ein halbfertiges Ding bei Schöffling erschienen.

Das Zitat stammt von S. 63.

2014 wurde McBride für diesen Roman mit dem Baileys Women’s Prize for Fiction ausgezeichnet. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekt Women’s Prize for Fiction.

6 Gedanken zu “Brutalität, Fragilität und ein sehr eigenwilliger Stil – „A Girl is a Half-formed Thing“ von Eimear McBride

  1. Bianka Bloecker 24. Juli 2019 / 11:03

    Wunderbar – das hat mich richtig neugierig gemacht, Marion!

    Ich werde tatsächlich gleich durch Berlins momentanen Hitzesommer zu meinem Buchladen laufen …

    Herzlichen Dank und eine sorglose Zeit
    Bianka

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    • Marion 24. Juli 2019 / 13:45

      Das ist – sollten die Temperaturen auch nur annähernd so sein wie in Bremen – ein tapferes Unterfangen. Aber es lohnt sich! Bei der Lektüre wünsche ich dir viel Spaß.

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  2. Miss Booleana 12. August 2019 / 21:41

    Da hast du aber selber eine ergreifende und wortgewandte Besprechung geschrieben. 🙂 Hat mir so gut gefallen, dass ich denke das Buch unbedingt lesen zu müssen, obwohl mir Bewusstseinsstrom ein Graus ist … ich schweife da gedanklich so schnell ab, dass ich erst nach Seiten merke, dass ich eigentlich schon im Autopilot lese. Geht dir das auch so? Ist das der Effekt? Wie schreibt man das nur?

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    • Marion 12. August 2019 / 22:02

      Ha! Dann hat sie sich ja gelohnt, die Besprechung.
      Ich finde Bewusstseinsstrom auch oft mühsam zu lesen. In dem Roman hier ist es noch „light“ und der ganze völlig unnötige Kram (Was mache ich morgen zu Essen? Wird es wohl noch regnen? Shit, hab ich Mehl gekauft? Wie hieß nochmal der fünfte von den Backstreet Boys?) ist da schon raus. Manchmal gibt es sogar ganze Sätze.
      Ich glaube, „richtigen“ Bewusstseinsstrom soll man gar nicht konzentriert und aufmerksam lesen. Gott, wenn ich konzentriert allen meinen Gedanken nachginge!
      Aber ich glaube, so schreibt man ihn 🙂
      (Was ich gedacht habe, während ich das schreibe: uh, ich muss meinen Wecker morgen früher – witzig dass ich Tanja heute morgen – der Hund am Remberti war echt süß – reicht der Kaffee noch bis Donnerstag – ach, wegen nächstem Sonntag muss ich noch)

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