Ann Patchett: Bel Canto

In einem nicht näher benannten südamerikanischen Land wird der Geburtstag des japanischen Unternehmers Hosokawa groß gefeiert. Man hofft, dass seine Firma im Land investieren wird und hat weder Kosten noch Mühen gescheut, um einen großen Empfang zu organisieren. Sogar die von ihm vergötterte Opernsängerin Roxanne Coss hat man zu einem kostspieligen Auftritt überreden können. Die Villa des Vizepräsidenten, in der die Feier stattfinden soll, ist auf Hochglanz poliert. Alles läuft wie am Schnürchen, nur Präsident Masuda sagt wegen nicht aufschiebbarer anderer Verpflichtungen ab. Was alle wissen und keiner wissen soll: die unaufschiebbare Verpflichtung ist die wöchentliche Zusammenfassung seiner Lieblings-Telenovela. Das enttäuscht besonders die Terroristen, die nach dem letzten Ton aus Coss Kehle in den Salon stürmen, um den Präsidenten zu entführen. Als sie sein Fehlen bemerken, setzen sie die gesamte Gesellschaft als Geiseln fest.

Patchett_BelCanto

Als Patchetts Roman 2001 erschien, war die Erinnerung an die Geiselnahme in der japanischen Botschaft in Lima noch recht frisch. 1996 waren dort bei einem Empfang 480 Menschen festgesetzt worden. Einen Großteil ließ man bald frei, doch 120 der Geiseln wurden über vier Monate in der Botschaft festgehalten, während die Verhandlungen auf der Stelle traten.

Patchett orientiert sich in ihrem Roman eng an den Ereignissen, führt mit der Sopranistin Roxanne Coss aber eine fiktive und alles verändernde Figur ein. Als am zweiten Tag der Geiselnahme alle Frauen das Haus verlassen dürfen, muss Roxanne bleiben. Sie ist fast die berühmteste Person im Saal und die Geiselnehmer hoffen, mit ihr ein Ass im Ärmel zu haben. Wie auf den großen Bühnen der Welt gelingt es Roxanne auch beim deutlich verkleinerten Publikum, alle Herzen zu rühren. Sie ist sich sicher, dass sie, so lange sie singt, von den Terroristen nichts zu befürchten hat. Von den Terroristen hat sowieso niemand wirklich was zu befürchten. Nachdem sie ihr eigentliches Ziel nicht umsetzen können, sind sie relativ planlos. Manchmal erwähnt einer, dass man ja eine Geisel erschießen könnte, um den Forderungen Nachdruck zu verleihen, aber dann kann man sich doch nicht dazu durchringen. Je länger die Geiselnahme andauert, umso durchlässiger wird die Front zwischen Gefangenen und Gefangennehmenden. Man kocht zusammen, plaudert, spielt Schach. Irgendwie muss man die Zeit ja rumkriegen. Im Gegensatz zur realen Vorlage haben die Geiseln es übrigens recht komfortabel – man hat ihnen weder Wasser noch Strom abgestellt und so steht auch gemeinsamen Fernsehabenden nichts im Weg.

„He had never seen such a unprofessional group of terrorists. It was a complete and utter mystery to him how they had even managed to overtake the house.“

Der Leserin geht es wie den Geiseln – man baut unweigerlich eine gewisse Sympathie zu den Geiselnehmern auf. Einige sind immer noch ein wenig unberechenbar, aber im Großen und Ganzen scheint es ein ganz netter Haufen zu sein. Ihr erklärtes Ziel ist eine Verbesserung der Lebensumstände für die indigene Bevölkerung des Landes, was ja auch nicht verkehrt ist. Verbindendes und rettendes Element in Bel Canto ist aber vor allem die Liebe zur Musik, die allen Personen angeboren scheint. Selbst die Terroristen, die gerade aus ihrem Trainingslager im Dschungel kommen und in ihrem ganzen Leben noch nie eine Oper gehört haben, sind vom ersten Ton an Feuer und Flamme für die Schönheit der Komposition. Roxannes Gesang bringt Frieden und Einheit in die Versammlung und macht den Aufenthalt weit friedlicher, als er es sonst wäre.

Kaum merklich entwickelt sich die lebensbedrohliche Situation zu einer Art Ferienlager. Viele der Männer, die im Haus festgesetzt werden, sind sonst vielbeschäftigt und wissen erst gar nichts mit so viel Freizeit anzufangen. Man weiß ja aber auch den ganzen Roman über, dass es so nicht weitergehen kann und die Geiselnahme irgendwie wird enden müssen. Am Ende wird Gruppe wieder aufgeteilt werden in Geiseln und Geiselnehmer, die Frage ist nur, wie es für wen ausgeht. Patchett schafft eine einzig- und eigenartige Atmosphäre, die einen oft vergessen lässt, dass es sich bei den beteiligten Personen nicht um ein nettes Wohnprojekt handelt. Langsam treten auch die Terroristen aus dem Schatten ihrer Einheitlichkeit heraus und bekommen Namen und Charakterzüge. Einige von ihnen werden sogar recht sympathisch und man wünscht ihnen bestes Gelingen für ihre Vorhaben. Ob sie tatsächlich Erfolg haben, sei an dieser Stelle nicht verraten, ich rate aber sehr dazu, das Buch zu lesen.


Ann Patchett: Bel Canto. Harper Collins 2002. 318 Seiten. Originalausgabe: Harper Collins 2001. Der Roman wurde durch Karen Lauer ins Deutsche übersetzt und ist unter gleichem Titel beim Berlin Verlag lieferbar.

Das Zitat stammt von S. 135.

Für diesen Roman bekam Patchett 2002 den Orange Prize. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.

 

2 Gedanken zu “Ann Patchett: Bel Canto

  1. dj7o9 19. Februar 2019 / 18:50

    Ahhh das hab ich vor ein paar Jahren gelesen und sehr gut in Erinnerung behalten. Das hatte eine ganz besondere Atmosphäre. Danke fürs dran erinnern 😉

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