Barbara Kingsolver: The Lacuna

Harrison Shepherd wird als Sohn eines US-Bürgers und einer Mexikanerin in Washington D. C. geboren. 1929 kehrt seine Mutter mit ihm im Schlepptau nach Mexiko zurück, wo sie auf der Hacienda ihres neuen Partners leben. Morgens erwacht er zu den furchteinflößenden Schreien der Brüllaffen, seine Tage verbringt er einsam lesend in seinem Zimmer oder tauchend in er Bucht bei der Hacienda. Dort entdeckt er einen Tunnel, der ihn in eine andere Welt zu bringen scheint – seine Lakune. Seinen einzigen Freund findet er in Koch Leandro. Von ihm lernt er Rezepte, die ihm später noch viel weiter helfen werden. Das alles hält er in seinen Notizbüchern fest, die ein unentbehrlicher Anker für ihn werden und die er sein ganzes Leben lang weiterführen wird.

„You had better write all this in your notebook, she said, the story of what happened to us in Mexico. So when nothing is left of us but bones, someone will know where we went.“

Nach einer erneuten Trennung seiner Mutter kann für Harrison keine gute Schule bezahlt werden und er sucht sich stattdessen Gelegenheitsarbeiten. So kommt er erstmals in das Umfeld des berühmten Malers Diego Rivera, für dessen großes Wandbild in Mexiko City er den Putz anrührt. Später arbeitet er auch für seine noch berühmtere Frau Frida Kahlo, mit der ihn bald eine enge Freundschaft verbindet. Als das Haus der beiden zum Asyl für Leo Trotzki wird, arbeitet er auch als dessen Sekretär. Später lebt er als Schriftsteller in den USA und kriegt größere Probleme mit den Fragebögen zu „unamerikanischen Umtrieben“.

Kingsolver_TheLacuna

The Lacuna ist die Lebensgeschichte Harrison Shepherds, herausgegeben von einer „Archivistin“, die zunächst nur mit V. B. zeichnet und sich erst nach und nach zu erkennen gibt. Der Roman besteht aus Selbstzeugnissen Shepherds, aus Tagebucheinträgen und Briefen, die er vor allem an Frida Kahlo geschrieben hat, durchsetzt von einigen Zeitungsausschnitten. Einiges in dem Text muss man sich selbst zusammenreimen, Leerstellen müssen gefüllt werden – die Lakune bezeichnet hier nicht nur einen geheimgehaltenen Ort vor der Küste Mexikos.

Das Leben Shepherds ist bewegt und von interessanten Begegnungen mit glamourösen Persönlichkeiten geprägt. Shepherd ist immer – ganz zufällig – zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Manchmal wird die Zufälligkeit aber doch arg strapaziert. So besucht er beispielsweise für kurze Zeit ein Internat in den USA, das sein Vater ihm bezahlt. Zufällig ist das gerade 1932 und zufällig wird er auch noch Zeuge der Bonus Army Aufstände. Alles andere, was in diesen Kapiteln passiert, hätte auch in Mexiko passieren können, Kingsolver schickt ihren Protagonisten eigentlich nur in die USA, damit er bei diesem Aufstand sein kann. Das Ereignis wird später nochmal erwähnt, aber ansonsten sehe ich nicht, warum diese Episoden überhaupt im Roman sind.

Einige der Dialoge sind wirklich witzig, was vor allem auf das Konto Frida Kahlos geht. Ich weiß nicht, inwieweit Kingsolver sich hier auf verbriefte Anekdoten stützt, aber zumindest in diesem Roman ist Kahlo eine sehr, sehr witzige Frau. Leider gibt es aber auch diverse Dialoge in denen Personen sich sehr lange darüber unterhalten, dass sie total einer Meinung sind und die eigentlich nur dazu dienen, diese Meinung im Roman unterzubringen. Ein großes Thema ist das Verhältnis von Kunst und Staat, was die Kunst darf und was sie soll und an welchen Stellen der Staat mit welchen Konsequenzen eingreift. Probleme haben da nicht nur die surrealistischen MalerInnen, unter ihnen Kahlo, sondern auch Shepherd. Seine Romane lässt er in der fernen Vergangenheit spielen, übt aber trotzdem genug generelle Systemkritik um dafür Probleme zu kriegen. Ich habe die ganze Zeit versucht herauszufinden, ob Kingsolver ihren Roman auch in der Vergangenheit ansiedelt um damit auf aktuelle Missstände aufmerksam zu machen und ob sie deshalb so unnütze Szenen da reinschreibt. Wenn sie es tut, habe ich es nicht geschafft, das zu dechiffrieren, das tut mir dann leid.

Die Geschichte Harrison Shepherds ist eigentlich vor allem eine Geschichte über Frida Kahlo, Diego Rivera und Leo Trotzki mit einer Menge Lokalkolorit. Wenn einen das interessiert, ist The Lacuna ein solider historischer Roman, der aber halt echt seine Längen hat, wenn auch sehr witzige Szenen. So viel Kingsolver auch auslässt, an einigen Stellen hätte dem Roman ein wenig mehr Kürze absolut nicht geschadet.


Barbara Kingsolver: The Lacuna. Faber and Faber 2009. 670 Seiten. Originalausgabe Harper Collins 2009. Eine deutsche Übersetzung gibt es, soweit ich herausfinden konnte, nicht.

Das Zitat stammt von S. 4.

Für diesen Roman bekam Kingsolver 2010 den Orange Prize for Fiction. Es war kein starkes Jahr. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.