Die Familie Smart macht Urlaub in Norfolk. Die Gegend ist langweilig, das Haus abgewohnt, aber es wurde mit einem Gartenhaus beworben, in dem Mutter Eve in Ruhe an einem ihrer historischen Bücher schreiben will. Leider ist das Gartenhaus nur ein Schuppen mit Fenstern, und das ist nur die erste Enttäuschung. Tochter Astrid steckt tief in der Pubertät und ihr Bruder Magnus in einer Depression, weil er sich als verantwortlich für den Selbstmord einer Mitschülerin sieht. Vater Michael langweilt sich zu Tode und sehnt sich nach seiner aktuellen Affäre, die er nur manchmal in London besuchen kann.
Auf einmal steht Amber vor der Tür. Sie entschuldigt sich für die Verspätung, ihr Wagen habe eine Panne gehabt. Michael nimmt an, Amber wolle Eve besuchen, möglicherweise ein Interview über ihre Bücher führen. Eve nimmt an, Amber sei eine der Studentinnen, mit denen ihr Mann permanent schläft. Dreist, sie ins familiäre Feriendomizil einzuladen, aber auch nicht sehr überraschend. Niemand spricht darüber, niemand weiß, wer Amber ist. Sie bleibt.
Zunächst scheint Amber die Rettung der Familie zu sein. Sie verhilft Astrid zu ein wenig mehr Normalität und holt Magnus aus seiner Depression. Aber auch wenn die Familienmitglieder sich langsam an sie gewöhnen, bleibt Amber doch mysteriös und ungreifbar und ignoriert Fragen zu ihrer Herkunft einfach.
„It is Amber who makes things okay.“
Ich habe das Buch enorm gerne gelesen und das liegt nicht nur an der Handlung, sondern vor allem an Ali Smiths Schreibstil, den ich auch in ihren anderen Romanen schon sehr mochte. Sie schreibt in diesem Roman nicht in der ersten Person, sondern in der dritten, schafft es aber, jedem Familienmitglied eine eigene, passende und unverwechselbare Erzählstimme zu geben. Selten großartig ist es übrigens, wie Smith pubertierende Mädchen erzählen lässt. Pubertierende Mädchen nerven, das wissen wir alle, aber die von Ali Smith sind in ihrer absoluten Verweigerungshaltung tatsächlich unterhaltsam und lesen sich noch dazu sehr authentisch. Das ist, zumindest meiner Erfahrung nach, eine Seltenheit in der Literatur. Pubertierende Mädchen in Büchern nerven oft noch mehr als in der Realität, nicht aber, wenn Smith von ihnen erzählt.
Auf Ali Smiths Romane, auch auf diesen, muss man sich einlassen können und wollen. Die Handlung wird nicht straight erzählt, sie mäandert ein bisschen vor sich hin, wird aus dieser und jener Perspektive beleuchtet, einiges verläuft im Sande, einiges erschließt sich erst sehr langsam und zögerlich. Mit der Merkwürdigkeit, dass Ambers Anwesenheit nicht hinterfragt wird beispielsweise kamen nicht alle RezensentInnen gut klar, einige kreiden diesen Umstand als logischen Fehler an. In der Logik und Dynamik der Familie Smart allerdings hätte es anders eigentlich nicht laufen können.
„As if I give a monkey’s fuck about what you think about books.“
Aus einzelnen Fragmenten entsteht das Bild einer Familie, deren Mitglieder nicht mehr viel miteinander anfangen können, vielleicht noch nie richtig konnten. Amber erfüllt beinahe ein Klischee – die mysteriöse Fremde, die aus dem Nichts auftaucht und es schafft, als einzige die Wahrheit auszusprechen und den Menschen etwas zu geben, das ihnen eine Hilfe sein kann. Aber eben auch nur fast, denn natürlich muss das Klischee in diesem Roman gebrochen werden und Ambers Anwesenheit erweist sich noch als weitaus problematischer und folgenschwerer, als zunächst angenommen.
Wieder hat Smith es in diesem Roman geschafft, mit Erwartungshaltungen zu brechen und einen überraschenden, komplexen, dabei aber auch sehr unterhaltsamen Roman zu schreiben. Unbedingte Empfehlung von meiner Seite!
Ali Smith: The Accidental. Penguin Books 2006. 305 Seiten, ca. € 9,-. Erstausgabe Hamish Hamilton 2006. Deutsche Übersetzung: Die Zufällige. Übersetzt von Silvia Morawetz. Taschenbuchausgabe btb 2009. 320 Seiten, € 9,-.
The Accidental war 2006 auf der Shortlist des Orange Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.
Das erste Zitat stammt von S. 139, das zweite von S. 152.
Deine Buchbesprechungen lesen sich so locker, fluffig und zugleich informativ, dass es immer wieder eine Freude ist. Ali Smith ist jetzt auch auf meinem virtuellen SuB. Herzlichen Dank.
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Ich danke sehr! Und freue mich, wenn ich die Ali Smith-Leserschaft erweitern kann.
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„Beides sein“ mochte ich ja auch, mit ihren Erzählungen hatte ich ein bisschen Probleme, aber ich werde sie weiter lesen, sie ist eine so interessante Autorin. Danke für die Erinnerung!
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Sehr gerne! Ich habe bisher nur Romane von ihr gelesen, ahne aber, warum ihre Kurzgeschichten schwierig sein könnten.
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