Anne Tyler: Ladder of Years

Delia hat die Schnauze voll von ihrer Familie. Ihr Mann und ihre drei fast erwachsenen Kinder bringen ihr keine Wertschätzung entgegen und ihre gerade aufkeimende Affäre mit Adrian findet ein jähes Ende, nachdem er sich dann doch mit seiner Frau versöhnt. Während des gemeinsamen Sommerurlaubs, der jedes Jahr am gleichen Ort stattfindet, steht sie auf und geht, bekleidet nur mit Badeanzug und -mantel. Eine glückliche Fügung bringt es, dass auch die 500$-Dollar Urlaubskasse in ihrer Badetasche ist, was ihr zumindest eine kleine Starthilfe ist im nahen Städtchen Bay Borough, wohin sie ein Lastwagenfahrer mitnimmt.

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Sie findet Unterkunft bei einer Frau, die Zimmer vermietet und Arbeit bei einem Rechtsanwalt, der Mindestlohn zahlt. Nach ein paar Tagen erscheint eine Vermisstenanzeige der Polizei, in der nach ihr gesucht wird. Die vermissenden Familienmitglieder sind sich weder mit ihrer Haar- noch mit ihrer Augenfarbe sicher, was Delia in ihrem Entschluss bestärkt – sie bleibt in Bay Borough. Ihre Schwester taucht auf und fragt, ob ihr Mann sie schlage. Die Polizei taucht auf und fragt, ob der Aufenthalt in Bay Borough ihrem freien Willen entspreche. Delia wartet, dass auch ihr Mann Sam auftaucht, sie in die Arme und mit nach Hause nimmt. Es kommt nur ein Brief mit vorwurfsvollem Unterton. Also bleibt sie wo sie ist.

Ich sage das nicht gerne, aber Ladder of Years ist ein grauenhaftes Buch und ich war bis 30 Seiten vor Ende versucht einfach abzubrechen. Im folgenden werde ich spoilern, wer aber noch vorhat, dem Roman eine Chance zu geben, sollte ohnehin nicht weiterlesen.

„You always had to begin by finding some man to set things in motion, it seemed.“

Nachdem Delia so Hals über Kopf ihre Familie verlassen hat, macht sie ungefähr nichts mehr. Sie entwickelt sich kein Stück weiter, sie gibt sich nicht einmal Mühe, das zu tun. Nachdem sie ihren Job als Büroangestellte aufgibt, arbeitet sie für einen Mann, dessen Frau ihn verlassen hat und der nun mit Sohn und Haushalt überfordert ist. Delia zieht bei den beiden ein und ist exakt die Hausfrau, die sie vorher war. Sie bügelt, kocht, kauft ein, holt den Sohn von der Schule ab. Jetzt kriegt sie eben Geld dafür. Man sollte ja meinen, dass eine Frau, die neu anfangen will, sich vielleicht neuen Herausforderungen stellt, vielleicht etwas neues lernen will, und wenn es nur ein Aquarell-Kurs ist. Nicht so Delia. Ja, sie geht mal schwimmen, das hat sie früher nicht gemacht, davor hatte sie sogar Angst. Sie liest nicht mehr nur romantische Liebesgeschichten sondern auch mal Klassiker, weil die Bibliothek von Bay Borough eben nichts anderes hat. Sie liegt unvernünftig lang in der Sonne, davon hat ihr überbesorgter Ehemann ihr immer abgeraten. Und so vergeht ein Jahr.

Dann kommt die Nachricht, dass eine ihrer Töchter heiratet, wofür Delia nach Baltimore zurückkehrt. Und in der Sekunde, in der sie das Haus betritt, ist alles wieder wie vorher. Es ist selbstverständlich, dass sie die Wäsche macht und das Essen kocht. Dass ihre Söhne zu jeder beliebigen Uhrzeit am Küchentisch aufschlagen und davon ausgehen, dass Delia ihnen eben eine Kleinigkeit zaubert. Und sie macht es, ohne jeden Kommentar. Schön, wieder zu Hause zu sein. Delia, warum warst du weg?! Was hast du da draußen denn gemacht? Nicht mal selbstbewusster bist du geworden oder mutiger!

Ich sehe ja ein, dass Delia ihre Familie und ihr ganzes Leben nicht einfach so über den Haufen werfen kann und will. Aber ehrlich – es ändert sich überhaupt nichts. Die Geschäftsführerin des kleinen Familienunternehmens ist aus dem Sabbatical wieder da, alles läuft wieder in der Spur. Natürlich sind in ihrer Abwesenheit allerlei Katastrophen passiert und Leute haben sich gestritten, weil die ausgleichende weibliche Harmonie im Haus gefehlt hat. Der Spülschwamm riecht streng und muss ausgetauscht werden. Nur noch Dosensuppen im Küchenschrank. Weil sich niemand auch nur den Hauch von Mühe gegeben hat, sich um die ganze Scheiße zu kümmern, die Delia sonst macht. Aber Delia wird das sicher retten mit ihrer verständnisvollen und zupackenden Art. Warum schreibt man denn um alles in der Welt ein Buch, in dem keine der Figuren eine ernsthafte Entwicklung durchmacht? Das nur darauf zusteuert, dass sich am Ende alle in den Armen liegen und sich freuen, dass sich nichts geändert hat? Immerhin gibt es Küstenpanorama, Sommerkleider und gelegentliche Möwen, damit könnte man wenigstens einen ZDF-Sonntagsfilm daraus machen. Was netteres kann ich dazu nicht sagen.


Anne Tyler: Ladder of Years. Vintage 1996. Erstausgabe Chatto & Windus 1995. 325 Seiten. Lieferbar noch immer bei Vintage in einer inzwischen neuen Ausgabe für ca. € 10,-.  Deutsche Ausgabe: Kleine Abschiede. Übersetzt von Christine Frick-Gerke. Kein und Aber 2016. 464 Seiten, € 13,-.

Das Zitat stammt von S. 82.

1996 war das Buch auf der Shortlist des Orange Prize for Fiction. Das war das erste Jahr, in dem dieser Preis ausgelobt wurde und möglicherweise wurden nur sechs Titel und ein IKEA-Katalog eingereicht, anders kann ich mir nicht erklären, was dieses Buch auf der Shortlist zu suchen hat. Dennoch ist es Teil des Women’s Prize for Fiction-Projekts.

5 Gedanken zu “Anne Tyler: Ladder of Years

  1. literaturreich 13. Juni 2017 / 11:06

    Ich würde so gerne eine Lanze für dieses Buch brechen, da ich viele von Ann Tylers Büchern sehr schätze. Aber tatsächlich habe ich dieses Buch ausgelassen (ein Wink des Bücher-Schicksals?). Nun gut, fast jeder Autor greift mal daneben. Dann brauche ich dieses Buch zumindest nicht nachzuholen. Viele Grüße!

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    • Marion 13. Juni 2017 / 23:18

      Du kriegst mit „Vinegar Girl“ bald ne neue Chance 🙂
      Ich war nach „A Spool of Blue Thread“ auch überrascht, wie blöd ich dieses Buch fand.

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  2. Stefanie 29. Juni 2017 / 21:59

    Ach, wie schade. Ich mag Anne Tyler eigentlich sehr. Aber Du begründest das so schlüssig – da will man´s gar nicht selbst probieren …

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