„You’d have to ask yourself what’s wrong with this country at all that it can’t stop birthing virtuous ould bags.“
The Glorious Heresies, auf Deutsch sowas die „die glorreichen Ketzereien“, war der Gewinner des diesjährigen Baileys Women’s Prize for Fiction. Der Roman spielt in Irland, genauer gesagt in der Stadt Cork, die auf offiziellen Fotos immer einen sehr hübschen und pittoresken Eindruck macht. Die handelnden Personen in dieser Geschichte sind zum Teil hübsch aber auf keinen Fall pittoresk.
Angesiedelt ist der Roman im kriminellen Milieu der Hafenstadt. Wichtigster Strippenzieher ist Jimmy, der seinen Lebensunterhalt im wesentlichen mit Drogenhandel und Zuhälterei bestreitet. Als uneheliches Kind durfte er nicht bei seiner Mutter Maureen aufwachsen, die er aber Jahrzehnte später ausfindig gemacht hat und die er nun in einem seiner ehemaligen Bordelle wohnen lässt. Dort erschlägt sie den Einbrecher Robbie mit, der erste Akt von Ketzerei in diesem Roman, einem heiligen Stein. Jimmy hat keine Lust auf Ärger mit den Gardai und überredet seinen alten Kumpel Tony Cusack mit ihm die Leiche zu beseitigen. Cusack macht mit, er kann das gezahlte Geld gut gebrauchen um seinen Alkoholismus und den Unterhalt von sechs Kindern zu bestreiten. Sein ältester Sohn Ryan allerdings finanziert sich mit Drogenhandel weitestgehend selbst. Eine seiner Stammkundinnen ist Georgie, eine Prostituierte aus Jimmys Umfeld, die in diesen Tagen verzweifelt nach ihrem Freund Robbie sucht. Und so schließt sich der Kreis.
Verloren haben in dieser Gesellschaft von Anfang an eigentlich alle. Einige haben sich einen relativ sicheren Platz erkämpft, andere haben aufgegeben und einige hoffen noch auf einen Ausweg, auf einen Weg in die Mitte der Gesellschaft. Oder zumindest näher dran. Ihre Leben sind düster und brutal.
Obwohl keiner dieser Menschen irgendetwas mit der Kirche am Hut zu haben scheint, sind sie fast alle massiv von ihr geprägt und beeinflusst. Irland ist, vor allem aufgrund des Einflusses der katholischen Kirche, eines der wenigen Länder in der EU, in denen Abtreibungen bis heute nahezu völlig verboten sind (eine Ausnahme besteht, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist). Maureen war gezwungen, ihren Sohn Jimmy zur Welt zu bringen, durfte ihn aber nicht großziehen. Katie muss ins Ausland reisen und dort abtreiben, weil sie kein Kind möchte, dessen Vater mit 17 das erste Mal im Gefängnis sitzt. Auch Georgie verliert im Laufe des Romans ein Kind an eine kirchliche Gruppe, die die beeinflussbare und verunsicherte Frau überzeugt, dass ihr Baby woanders besser aufgehoben wäre. Sie alle werden damit unglücklich, Maureen aber wird auch wütend. Ihr Groll gegen diese Institution, die in fremden Leben herumpfuscht, wie es ihr gerade passt, kennt fast keine Grenzen. Nun sitzt sie in einem ehemaligen Bordell und ist entschlossen, alles zu tun, damit die grauenhafte, bigotte, rechthaberische Kirche nicht noch mehr unglückliche Leben in ihre zerstörerischen Krallen kriegt. Der Zynismus und schwarze Humor, den sie dabei an den Tag legt, sucht seinesgleichen. Ihrer Ansicht nach ist es höchste Zeit, dass die ganzen hochanständigen Personen, die immer wissen, wie sich jeder zu betragen hat, mal die Klappe halten . Maureen ist eine der tollsten, klügsten und mutigsten Frauen, die ich je in einem Roman getroffen habe. Und ja, sie ist auch völlig irre, das stimmt.
Ihr Sohn Jimmy lässt sich weniger von Prinzipien stören. Er ist vor allem an seinem persönlichen Weiterkommen interessiert und kennt weder Freunde noch Gnade. Wer ihm unbequem wird, wird schnellstmöglich und diskret aus dem Weg geräumt. John Cusack, der zu schwach ist, sich gegen Jimmy durchzusetzen, und nur einen einzigen, winzigen Fehler begeht, gerät schnell in die Schusslinie. Seinen Frust bekämpft er mit Alkohol und Gewalteskapaden gegen seinen Sohn Ryan, bis der eines Tages stärker und verschlagener ist als er selbst. Was zunächst klingt wie ein nicht sehr tiefschürfender Krimi in dem irgendwas mit Drogen passiert, offenbart mit jeder Seite mehr Tiefe und Vielschichtigkeit und wird zu einem Porträt einer Gesellschaft, die eine kaum beachtete und noch weniger geschätzte Randexistenz führt.
Die Sprache des Romans ist der Drastik der Story angepasst. Es wird geflucht, beschimpft und noch mehr geflucht. Ohne Gewalt kommt die Handlung nicht aus, die Schilderungen sind zum Teil nicht ohne, aber bei weitem keine Gewaltpornos. Die Beziehungen untereinander und das ganze Leben der Protagonisten sorgen alleine schon für eine Brutalität, die nicht mehr viel Blut und Tritte braucht. Die Sexszenen bleiben erstaunlich zurückgenommen und nüchtern, sind zuweilen aber auch durchaus explizit. Die Sprache passt sich den unterschiedlichen Situationen, der Zärtlichkeit, der Angst, der Brutalität so subtil an, dass man den Wechsel kaum bemerkt. Und bei alldem ist das Buch auch noch unfassbar witzig. The Glorious Heresies ist der erste Roman von Lisa McInerney und ihr Stil ist von einer Klarheit, einer Geradlinigkeit, einer Kantigkeit und einer Expressivität, die mich hoffen lässt, dass es nicht bei diesem einen bleibt.
Zuletzt noch ein Wort zur Entwarnung: Ich war unsicher, wie gut ich den irischen Slang verstehen würde, er wird aber so zurückhaltend eingesetzt, dass ich kaum Probleme hatte und nur ein oder zwei mal was googeln musste.
Lisa McInerney: The Glorious Heresies. John Murray 2016. 370 Seiten, ca. € 8,-. Erstausgabe John Murray 2015. Deutsche Übersetzung von Werner Löcher-Lawrence unter dem Titel Glorreiche Ketzereien 2018 bei Liebeskind.
Mehr über das Buch und einen Eindruck von McInerneys herausragendem Humor findet man auf ihrer Website.
Das Zitat stammt von S. 247 und selbstverständlich aus dem Mund von Maureen.
Von der Shortlist des Bailey’s Prize interessieren mich „Ruby“ und „The Green Road“ zwar mehr, aber The Glorious Heresies“ möchte ich auch lesen!
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Ich war auch erst skeptisch. Nach der Inhaltsangabe war ich wenig überzeugt, aber ich fand die Autorin so sympathisch und ihren Blog witzig. Zum Glück hab ich mich überzeugen lassen!
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