„Masks or faces? That’s what I keep asking myself. Masks or faces?“
Eleanor Catton dürfte vielen aufgrund ihres Romans Die Gestirne bekannt sein, für den sie 2013 den Man Booker Prize bekam und der im Winter 2015 auch in deutscher Übersetzung recht erfolgreich war. Diesem Erfolg ist es wohl auch zu verdanken, dass nun auch ihr Erstling The Rehearsal im Taschenbuch unter dem Titel Die Anatomie des Erwachens erschienen ist.
Der Roman hat im Wesentlichen zwei Handlungsstränge. Einer davon ist einer Gruppe von Mädchen gewidmet, die alle die gleiche Highschool besuchen und (zumindest größtenteils) Saxophon-Unterricht bei der gleichen Lehrerin haben. Eine von ihnen, Victoria, hat eine kürzlich aufgedeckte Affäre mit Mr Saladin, dem Leiter der Schulband. Da sie vorübergehend suspendiert ist, bekommt ihre kleine Schwester Isolde alle Aufmerksamkeit ab, die negative wie die positive. Der zweite Handlungsstrang konzentriert sich auf Stanley, einen Jungen, der gerade die Schule beendet hat und nun das Glück hatte, einen der begehrten Plätze an der örtlichen Schauspielschule zu bekommen. Die Handlung deckt in etwa ein Jahr ab, in dem an der Schule die ersten Übungen durchgeführt werden, sich die ersten persönlichen Verstrickungen entwicklen und schließlich für die große Abschlussaufführung geprobt wird.
Das zentrale Thema bei beiden Handlungssträngen ist die Frage nach der Rolle, die jeder Mensch spielt. Und zwar Rolle wirklich im Sinn von Schauspiel, im Sinne von ausgedachter, ausgearbeiteter Figur. Der englische Titel Rehearsal, also Probe, weist darauf weit deutlicher hin als der deutsche. Die Saxophon-Lehrerin befasst sich am meisten mit dieser Frage. Für sie ist die Schulzeit, die Zeit, in der die Mädchen noch zu Hause wohnen, eine Probe für das echte Leben, für das, was danach kommt, die Zeit vor der Premiere, in der Fehler normal, verzeihlich und ohne echte Konsequenz sind.
In ihren Augen sind die Frauen, die zu ihr kommen um über ihre saxophonlernenden Töchter zu sprechen, immer die gleichen. Sie spielen die immer gleiche Rolle, „Die Mutter“. Die Frau, die diese Rolle spielt, gibt sich natürlich Mühe und variiert die Rolle, zieht unterschiedliche Kostüme an, spricht manchmal in originellen Dialekten und trägt einmal sogar einen Fatsuit. Das beeindruckt die Frau, die übrigens auch immer nur die Saxophon-Lehrerin heißt, täuscht sie aber nicht darüber hinweg, dass „Die Mutter“ immer die gleiche ist. Zwischen zwei Schülerinnen denkt sie oft darüber nach, ob die Mädchen ihre Rollen glaubhaft tauschen könnten, ob die rebellische Julia die unscheinbare Bridget darstellen könnte und wie Isoldes rundliches Gesicht wohl in der Rolle der Julia wirken würde. Auch alle Lehrkräfte an der Schauspielschule müssen ohne Namen auskommen und vor allem im englischen Original werden die Charaktere dadurch völlig unscharf. Ob sich hinter „Head of Acting“ und „Head of Improvisation“ ein Mann oder eine Frau verbirgt, erfährt man nur durch seltene Personalpronomen. Die Durchlässigkeit und Zufälligkeit von Gender und Sexualität wird durch das Theaterstück zum Ausdruck gebracht, das Stanleys Gruppe probt. In diesem Stück zieht jede Figur eine Karte und diese determiniert ihren zukünftigen Weg. Männlich, weiblich, homosexuell, Cross-Dresser. Sind die Karten erst einmal verteilt, ist ein Tausch zwar prinzipiell möglich, aber extrem schwierig und fordernd und wer Pech hat, verliert gleich alles.
Vieles im Aufbau des Romans erinnert an eine Theateraufführung. Im Saxophon-Unterricht verändert sich oft das Licht, wenn eine Schülerin etwas erzählt, und bei einigen Szenen ist nicht klar, ob sie sich auf einer Bühne abspielen oder nicht, ob sie real sind, erfunden oder Improvisationstheater. Weil, so der Grundton das Romans, das auch überhaupt selten klar sein kann. Flirtet man noch wirklich, wenn man im Grunde nur das rekapituliert, was man mal in der Bravo/Brigitte/Men’s Health gelesen hat? Beißt man sich aus wirklich empfundenem unbändigem Verlangen auf die Unterlippe oder weil man weiß, dass diese Geste Verlangen ausdrückt? Wie viel Improvisationstheater steckt in jeder einzelnen Geste, jedem Gesichtsausdruck? Und wann ist eigentlich diese Aufführung, für die wir alle die ganze Zeit proben?
Im Vergleich zu Die Gestirne hat dieser Roman extrem wenig Handlung, spart aber keinesfalls am Tiefgang. Catton hat einige wirklich spannende Konzepte und Ideen und die sind angesichts des Alters, in dem sie diesen Roman geschrieben hat, wirklich umwerfend brillant. Ich hatte eine etwas dahin plätschernde Coming of Age-Geschichte erwartet, das ist dieser Roman aber keinesfalls. Die Frage der Rolle, die jeder spielt, ist natürlich in der Literatur keine neue, aber Catton hat sie selten charmant umgesetzt. Tatsächlich hat sie mich an die große, beeindruckende, niemals genug gelobte Ali Smith erinnert (Lest alle Ali Smith!). Die Saxophon-Lehrerin, die, möglicherweise als Teil ihrer Rolle, vielleicht auch nur als innerem Monolog, absolut und immer ihre Meinung über jeden und alles sagt, macht diesen Roman darüber hinaus auch noch ziemlich unterhaltsam.
Wer sich aufgrund Thema oder Umfang nicht für Die Gestirne begeistern konnte, sollte unbedingt diesen Roman lesen und wer Die Gestirne schon kennt, kann das hier auch ruhig lesen, es ist etwas grundlegend anderes und vor allem ein wirklich herausragender Roman.
Eleanor Catton: The Rehearsal. Granta 2010. 316 Seiten, ca. € 9,-. Erstausgabe Victoria UP 2008. Letzte deutsche Ausgabe: Die Anatomie des Erwachens. Übersetzt von Barbara Schaden. btb 2016.
Das Zitat stammt von S. 115.
Huch, nun hast du mich aber erwischt. Die Gestirne konnten mich leider nicht überzeugen. Vieleicht sollte ich ja doch einen zweiten Versuchen wagen? 🙂 Wahrscheinlich schon 😉
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Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert! Hätte ich nicht gewusst, dass die beiden Bücher von der selben Autorin sind, wäre ich niemals drauf gekommen. Wenn man es weiß, kann man einige sehr schwache Verbindungen finden, aber das hier ist ne völlig andere Nummer.
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Hmmm das könnte tatsächlich was für mich sein. Die Gestirne haben mich in der Tat aufgrund des Umfangs abgeschreckt. Klingt durchaus interessant für mich. Liebe Grüße 🙂
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Seit Wochen frage ich mich, warum mein Spamfilter deine Kommentare ungefragt löscht und heute komme ich auf den bing*-Filter. Oh Mann.
Davon abgesehen könnte ich mir tatsächlich vorstellen, dass das Buch was für dich sein könnte 🙂
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wie gemein – ich will nicht weggefiltert werden 😉
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