Circe, Tochter des Sonnengottes Helios, hat in der Mythologie nicht den besten Ruf. Mit magischen Kräften ausgerüstet sitzt sie auf ihrer Insel, lockt nichtsahnende Männer und verwandelt dann alle, die nicht nach ihrer Pfeife tanzen, in Schweine oder Schlimmeres. Prominentestes Beispiel sind sicher die Männer des Odysseus, die sie erst in ihren Schweinekoben gesteckt und dann nebst ihrem prominenten Kapitän unnötig lang auf der Insel festgehalten haben soll. Nachdem nun wohl Gras über diese Sache gewachsen ist, lässt Miller Circe jetzt selbst zu Wort kommen und erzählen, wie das aus ihrer Sicht alles war.
Und das klingt alles ganz anders: Von frühster Kindheit fühlt Circe sich in ihrer Familie und am Hof ihres Vaters ausgesondert. Sie gilt als sonderbar, ihre Geschwister verlachen sie wegen ihrer krächzenden Stimme, die Götter nehmen sie nicht ernst und ihre erste große Liebe Glaucos will lieber die schöne Nymphe Scylla heiraten. Doch Circe hat ein schlummerndes Talent, das sie selbst erst spät entdeckt. Sie ist eine Hexe und kann mit Hilfe von Kräutern und Essenzen zaubern. Sie verwandelt Menschen in Unsterbliche, Männer in Schweine, Fische in Schafe – ein Wort der Circe genügt und die Welt steht Kopf. Damit kommt sie sogar gegen die Götter an, selbst wenn sie nicht mit ihnen auf einer Stufe steht. Nach einem magischen Fehltritt und einer ordentlichen Ansage von Zeus bleibt Helios keine Wahl, als seine Tochter auf die Insel Aiaia ins Exil zu verbannen, von wo aus sie später ihren wenig rühmlichen Einzug in die Odyssee nehmen wird.
Da Circe ohnehin kaum Freunde hatte, kommt sie mit der Einsamkeit gut zurecht. Wenigstens macht sich auf ihrer Insel niemand mehr über sie lustig. Sie beschäftigt sich mit ihren Kräutern und Zaubern, ihren gezähmten Löwen und Wölfen und hin und wieder auch mit sterblichen wie unsterblichen Männern. An den meisten Männern aber findet sie kein gute Haar. Anders als in der Odyssee behauptet, handelt es sich bei den in Not geratenen Seemännern meistens nämlich nicht um schutzsuchende und verzweifelte Matrosen, sondern um rücksichtslose Grobiane, die es auf Körper und Besitz der vermeintlich schutzlosen alleinstehenden Frau abgesehen haben. Nachdem einer von ihnen sie vergewaltigt und zu töten versucht, kennt ihr Zorn keine Grenzen mehr. Eine Schiffsbesatzung nach der anderen verwandelt sie erst in Schweine und verbrennt sie dann auf dem Scheiterhaufen. Vor dem Feuer stehend fragt sie sich mal, ob sie das auch so ungerührt ansehen könnte, wenn es Männer wären und keine Schweine, deren Rauch da zum Himmel aufsteigt. Aber die Frage erübrigt sich.
Miller nimmt Circes Auftritte in der griechischen Mythologie als Grundlage und baut darauf eine ganze Lebensgeschichte auf. Halbgöttinnen (und auch Göttinnen) sind in den klassischen Texten kaum mit psychologischer Tiefe ausgestattet, sondern erfüllen meist einfach treu ihre Rollen. Anders ist es in Circe. Miller lässt die Hexe leiden, lieben und sich ängstigen und dabei schon fast menschlich werden. Aber eben nur fast, denn bei allen Emotionen und aller Empathie ist Circe immer noch keine Sterbliche, ein Umstand, mit dem sie oft genug hadert. Seit sie bei einer Hochzeit auf Kreta die ersten Menschen gesehen hat, hat sie eine Schwäche für die Sterblichen und ihr sinnloses Abmühen auf dieser Erde. Sie findet Freunde und Geliebte unter ihnen und verzweifelt daran, dass sie den Tod von allen beweinen wird und am Ende immer nur sie selbst und ihre Insel bleiben. Das Exil macht ihr nichts aus, wohl aber die eigene Ewigkeit.
„But of course I could not die. I would live on, through each scalding moment to the next. This is the grief that makes our kind choose to be stones and trees rather than flesh.“
Ganz ohne Hintergrundwissen ist der Roman wahrscheinlich teilweise etwas undurchsichtig. Miller schafft Abhilfe mit einem großzügigen Personenregister und teilweise in den Text eingewobenen Erläuterungen, die Circe übernehmen muss, da alles aus ihrer Perspektive erzählt wird. Das wirkt teilweise etwas hölzern und ist aber auch schon fast das einzige, was es stilistisch an diesem sehr gelungenen Roman zu kritisieren gibt. Miller macht aus der verlachten und gescholtenen Hexe eine Frau, die immer noch verschroben sein mag, in ihrem ganzen Habitus aber eigentlich schon recht modern ist. Und dabei so zeitlos, wie es Göttinnen eben sind.
tl;dr: Millers Erzählung von Circes Geschichte zeigt die verschriene Hexe der griechischen Mythologie als mutige und fast moderne Frau, die trotz göttlicher Herkunft ganz menschlich auftritt.
Madeline Miller: Circe. Little, Brown and Company 2018. 393 Seiten. Eine deutsche Übersetzung von Frauke Brodd ist unter dem Titel Ich bin Circe bei Eisele erschienen.
Das Zitat stammt von S. 55.
Miller war mit diesem Roman 2019 auf der Shortlist des Women’s Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des gleichnamigen Leseprojekts.
Ich liebe das Buch 🙂
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Ich fand den Roman recht zwiespältig. Einerseits gut erzählt und auch gelungen in der Schwerpunktsetzung, abseits der bekannten Odyssee-Episoden.
Andererseits eine Erzählposition, die einfach nicht aufgeht: Ist die Erzählerin wirklich Circe, müsste sie von ihren Verwandten erzählen, so wie wir von unseren Verwandten erzählen. Da aber die Autorin die Geschichte den sterblichen Lesern erzählt, lässt sie Circe oft sprechen, als müsste sie den ganzen Götterkram erst einmal sterblichen Lesern erklären, bei denen man zudem noch kaum ein tieferes Wissen von griechischer Mythologie voraussetzen kann. Fühlte sich an, als ob in einem Berlin-Roman mit berliner Haupt/Erzählerfigur ständig erklärt wird, was das eigentlich ist, „Berlin“.
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Ich sehe total, was du meinst, aber ich kenne durchaus Menschen, die keine Geschichte über Oma Annegret erzählen können, ohne ein Zeit- und Dorfpanorama anzuhängen.
Außerdem sind es komische Verwandte, da muss man manchmal ein bisschen ausholen um die eigene kritische Distanz deutlich zu machen. Mein Onkel Bernd hat mal, dazu musst du wissen…
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Das stimmt, wobei es für mich weniger das Ausholen an sich ist als das erklären von Konzepten (was sind Götter/ Götter können Magie usw), gegenüber einem Publikum, das das eigentlich wissen müsste. War jetzt auch kein „Dealbreaker“ für mich…
Sehr gelungen fand ich dagegen die enge Arbeit an den Quellen – dass sie praktisch 1:1 die Kirke-Mythen nacherzählt, die ja auch außerhalb der Odyssee existieren, sie verbindet, psychologisch unterfüttert und so neu ausdeutet. Meist wird da ja eher einradikales Rewriting versucht, das dann leicht predigend wirkten kann. Aber Miller bleibt, die Handlung betreffend, ganz eng am ursprünglichen Material und setzt umdeutende/Bedeutung erweiternde Schwerpunkte vor allem durch die neue Perspektive.
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Ja, den den Einwand kann ich verstehen.
Und die Arbeit nah an den Quellen mochte ich auch sehr. Ich kannte Circe bisher fast gar nicht außerhalb der Odyssee.
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Ich muss gestehen, dass ich den Hype um das Buch nie so recht verstanden habe. Vielleicht auch, weil ich mich nicht erinnern konnte wer oder was Circe war und was der Roman anders macht – das habe ich in deinem Beitrag jetzt das erste Mal so erläutert gelesen und verstanden. Vielen Dank dafür!
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Sehr gerne! Und danke dir für den Kommentar.
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