Eigentlich ist Liane kein abenteuerlustiger Mensch. Der Ruhestand ist in greifbarer Nähe, ihr Leben in geregelten Bahnen, doch ein Geheimnis in ihrer Familie lässt sie einfach nicht los: Ihr Vater war in sowjetischer Kriegsgefangenschaft und seine späte Rückkehr aus dem Krieg hat die Ehe ihrer Eltern und damit auch ihre Lianes eigene Kindheit stark beeinflusst. Den Vater erlebt Liane in ihrer Kindheit mitunter als abweisend und respekteinflößend. Seine Erlebnisse in den Kriegsjahren hängen dann wie ein dunkler Schatten über ihm. Er kann aber auch ganz anders sein, liebevoll und gelöst. Mit Liane aber spricht er nicht über das, was geschehen ist. Es scheint ihr, als müssten diese Jahre ein ewiges Geheimnis in der Vergangenheit ihres inzwischen verstorbenen Vaters bleiben.
„Mein Vater war zerbrochen. Der Krieg wütete weiter in ihm, verfolgte ihn bis in seine intimsten Regungen. Er beherrschte sein Nervensystem. Da gab es kein Entkommen.“
Doch plötzlich findet sich eine günstige Gelegenheit, Licht ins Dunkel zu bringen. Ein englischer Freund Lianes, der Russisch spricht, arbeitet gerade an der Universität in Moskau. Er bietet ihr an, sie auf der Suche zu begleiten und zu unterstützen. Ganz entgegen ihrer Gewohnheiten ergreift Liane die Gelegenheit, bucht Flüge und packt Koffer und ist schon bald auf dem Weg nach Russland. Über St. Petersburg, Moskau und Jekaterinburg reisen sie und ihr Freund in einem unerträglich heißen Sommer nach Djegtjarsk, einer kleinen Stadt, in der sich einst die Kriegsgefangenenlager 313 und 476 befanden. Die erhofften Antworten aber findet Liane in diesem entlegenen Ort nicht. Auch das Reichskriegsarchiv in Moskau entpuppt sich als Reinfall. Die Aufzeichnungen, die Liane sucht, scheint es gar nicht zu geben und falls doch, verbergen sie sich hinter den unüberwindbaren Mauern der russischen Bürokratie.
Doch trotz dieser frustrierenden Ergebnisse ist die Reise nicht umsonst. Liane findet nicht die Orte und Dokumente, die sie sich erhofft, aber zu Erkenntnissen kommt sie dennoch. Dabei hilft ihr sowohl ihre Reisebegleitung, als auch der Orts- und damit verbundene Perspektivwechsel. Und nicht zuletzt wohl auch die endlosen Bahnfahrten, die ihr Zeit zum Nachdenken verschaffen.
Sabine Huttel beschreibt in ihrem neuen Roman mit viel Feingefühl eine Situation, die wohl viele kennen: Die Suche nach den Menschen, die die Eltern waren. Die Frage nach den zwanzig, dreißig Jahren, die waren, bevor die Eltern Eltern wurden. Stilistisch gradlinig und klar beschreibt sie diese Suche und verbindet sie mit der Erzählung einer Reise durch Russland, die durch Lianes ganz persönlichen Blick geprägt wird. Sie liebt die klassischen russischen Autoren und sucht im modernen Russland auch nach dem Land, das in ihren Romanen beschrieben wird. Was ist geblieben von den endlosen Weiten der Steppe und wie lange braucht man heute noch, um ein Werst zurückzulegen? Auch wenn die Suche nicht so gradlinig verläuft, wie man es vielleicht erwartet hätte, enttäuscht die Lösung des russischen Rätsels keineswegs.
Sabin Huttel: Das russische Rätsel. tredition 2021. 228 Seiten.
Das Zitat stammt von S. 86 der eBook-Ausgabe mit 147 Seiten.
Ich danke dem Verlag und der Autorin für das Leseexemplar.
Ein Gedanke zu “Auf der Suche nach verwischten Spuren – „Das russische Rätsel“ von Sabine Huttel”