Vier Generationen verbindet Nancy Huston in Fault Lines durch ein gemeinsames Merkmal: Sie alle tragen das gleiche Muttermal, wenn auch an unterschiedlichen Stellen ihres Körpers. Der letzte in der Reihe, der sechsjährige Sol, trägt es an der Schläfe. Für seine Mutter ist das ein nicht akzeptabler Makel an ihrem sonst makellosen Sohn. Sie will es entfernen lassen, vorgeblich wegen der erhöhten Krebsgefahr. Doch so leicht lassen sich die verbindenden Elemente einer Familie nicht wegschneiden. Kurz nach der OP entwickelt Sol eine gefährliche Entzündung.
Sol ist eines von vier etwa sechsjährigen Kindern, deren Geschichten in diesem Roman erzählt werden. Von ihm aus geht Huston immer eine Generation zurück, über seinen Vater Randall, seine Großmutter Sadie und schließlich zu seiner Urgroßmutter Erra, deren Leben im Terrorregime des Nationalsozialismus begann. Sol lebt nun als überbehütetes Kind in den USA. Seine Eltern, besonders seine Mutter, erlauben ihm alles und feiern auch die kleinsten Erfolge. Dafür ist Sol nicht etwa dankbar, sondern wird zutiefst bösartig. Den Computer seiner Mutter nutzt er, um sich im Internet Videos von Enthauptungen und anderen Gräueltaten anzusehen.
Seine Erzählstimme wirkt dabei manchmal beinahe grotesk. Huston lässt alle Kinder diesen Roman aus ihrer Perspektive und als Ich-Erzähler schildern. Sie alle klingen dabei so eloquent, ihre Gedanken sind so komplex, dass nur die gelegentliche Erwähnung von Kindergarten und Grundschule daran erinnert, dass man es nicht etwa mit hochbegabten Sechzehnjährigen zu tun hat. Nun werden auch alle diese Kinder als sehr besonders und begabt charakterisiert, plausibel wirken ihre Stimmen aber trotzdem nicht und nahbar erst recht nicht. Vor allem bei Sol werden sowohl Intelligenz als auch Boshaftigkeit so überzogen dargestellt, dass man glaubt, einen Roman über Stewie „Footballschädel“ Griffin zu lesen.
„I must admit that Mom has never made me feel like an idiot. It’s like with Mary and Jesus. Mary would never go against any of Jesus’s wishes because she knew he had a special destiny cut out for him, so she just kept all these things in her heart and pondered them.“
Huston erzählt die komplexe Familiengeschichte rückwärts. Einige Aspekte werden erst später im Roman aufgeklärt, die großen Krisen der Familie werden aber immer schon erzählt, bevor der Roman so weit ist. Emotionale Überraschungsmomente bleiben dabei fast aus. Nur ein einziges Geheimnis zieht sich durch alle Generationen und wird erst fast am Ende aufgelöst. Ein großes Thema, das sich durch den Roman zieht, sind die Lebensborn-Einrichtungen des NS-Regimes, die auch das Leben der Familie sehr nachhaltig beeinflusst haben. Besonders Sadie ist geradezu besessen von diesem Thema und widmet ihre gesamte akademische Karriere der Erforschung der Lebensborn-Strukturen und ihrer Folgen. Als übergeordnetes Forschungsinteresse benennt sie das Böse. Geschickt platziert Huston die Leben ihrer Charaktere entlang von Konflikten, ohne dass das konstruiert wirken würde. Das Böse im Menschen zieht sich durch diesen Roman ebenso wie das Entsetzen darüber und die Ohnmacht, mit der man dem Unfassbaren gegenübersteht.
Fault Lines ist ein thematisch ambitionierter Roman und Huston gelingt eine Konstruktion, die der Schwere der Thematik gewachsen ist. Allerdings leidet der Roman sehr an den überfrachteten Erzählstimmen, die so wenig nahbar wirken, dass immer eine Distanz bestehen bleibt. Dadurch wirkt auch die Beschäftigung mit „dem Bösen“ unpersönlich und beinahe beliebig. Die persönliche Betroffenheit der Familie wird postuliert und in ihren Biographien angelegt. Nachvollziehbar aber ist sie selten.
tl;dr: In Fault Lines erzählt Huston von vier Generationen einer Familie, die ständig vom Bösen bedroht ist, von außen wie von innen. Obwohl der Roman in seiner Konstruktion gelungen ist, schaffen überzogene und unstimmige eine so große Distanz, dass der Roman kühl und unnahbar bleibt.
Nancy Huston: Fault Lines. Atlantic Books 2008, 307 Seiten. Eine deutsche Übersetzung von Uli Aumüller und Claudia Steinitz ist unter dem Titel Ein winziger Makel bei Rowohlt bzw. rororo erschienen.
Das Zitat stammt von S. 16 – 17.
2008 war dieser Roman für den Orange Prize for Fiction nominiert. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.
Komische Kombination… normalerweise wählt man ja Kinder-Prespektiven eher, um einfache Blicke auf komplexe Sachverhalte zu werfen… wie die Autorin wohl auf diese Erzählstimme kam …?
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Ja genau, ich hab das auch nicht so richtig zusammengebracht. Es wurde von Generation zu Generation mehr. Das erste Mädchen (zeitlich – im Roman kommt sie als letztes dran) wirkt noch ziemlich authentisch. Sie hat einen Wissenshorizont, der zu ihrem Alter und ihrer Erziehung passt. Dann werden die Kinder immer klüger, aber nicht böser. Das hätte ich ja erwartet, wenn sich diese „Fault Lines“ weiterenentwickeln. Böse ist aber erst der letzte.
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