Zum Schweigen gebracht – „Do Not Say We Have Nothing“ von Madeleine Thien

Li-ling, Tochter chinesischer Einwanderer, lebt mit ihrer Mutter in Vancouver. Ihr Vater hat sich 1989 bei einer Reise nach Hongkong vom Dach eines Hauses gestürzt. Den Schmerz kann Li-ling ihm nicht verzeihen. Nur wenig später taucht Ai-Ming in Vancouver auf. Sie ist die Tochter einer Familie, mit der Li-lings Vater eine lange Verbindung hatte und muss China wegen ihrer Beteiligung an Protesten auf dem Tiananmen-Patz verlassen. Während Li-ling fast völlig ahnungslos ist, warum ihre Eltern China verlassen haben, weiß Ai-Ming eine Menge darüber und erzählt ihr eine lange Geschichte über tiefe Freundschaften, die Liebe zur Musik und die Folgen der Kulturrevolution.

Die Verbindung von Ai-Ming und Li-ling besteht vor allem über ihre Väter, die in Shanghai gemeinsam am Konservatorium gearbeitet und studiert haben, bis die Kulturrevolution die Karriere der beiden beendete. Ai-Mings Vater Sparrow, einen Komponisten, traf es dabei härter. Er konnte sich mit der neuen Linie nicht anfreunden, wollte nicht abrücken von seinen großen Vorbildern in der klassischen Musik zugunsten einer volksnäheren Musik. Statt an seinen Kompositionen zu arbeiten, endet er in einer Fabrik, in der er die Einzelteile von Radios verlötet. Und damit kommt er noch glimpflich davon – etliche in seiner Familie landen als Rechtsabweichler in Arbeitslagern und kommen gar nicht oder als gebrochene Menschen zurück.

Mit diesen beiden verwobenen Familiengeschichten deckt Thien zugleich beinahe 60 Jahre chinesischer Geschichte ab, von Mao Zedongs Anfängen in den späten 1940er-Jahren bis zu den blutig niedergeschlagenen Protesten in Peking 1989. Ihre Protagonist*innen kommen mehr als einmal in Konflikt mit der Regierung und ihrer Ideologie, denunzieren und kritisieren engste Freunde und Familienmitglieder. Doch der größte Konflikt für viele Charaktere liegt in der Musik, die zugleich ihr wichtigstes Ausdrucksmittel ist. Besonders Zhuli, eine Cousine Sparrows, hat damit zu kämpfen. Sie ist eine vielversprechende Solo-Violinistin und findet sich nicht zurecht in einer Welt, in der es ein Frevel ist, als Solistin brillieren zu wollen, statt im großen Orchester aufzugehen. Ihr Instrument gilt plötzlich als dekadent und konterrevolutionär, die von ihr verehrten Komponisten Schostakowitsch und Debussy erst recht. Sie fürchtet die Konsequenzen ihrer Tätigkeit und weiß zugleich nicht, was sie sein soll, wenn nicht Violinistin, woran sie sich festhalten soll, wenn nicht an ihrem Geigenkoffer.

At some point, a person must decide whether they belong to the people who loved them, or whether they belong to the emperors. The truth is my ancestry is long and complex because this country is old.

S. 234

Zhuli kann sich nicht an die neuen Zeiten gewöhnen, wie so viele in ihrer Familie und ihrem Umfeld. Thien kann sich dabei auf reale Erlebnisse stützen: Mitte der 1960er-Jahre begann in China ein Kreuzzug gegen westliche Einflüsse in der Kultur, initiiert durch Maos Ehefrau. Am Shanghaier Konservatorium, das eine wesentliche Rolle im Roman spielt, führte dies zu großen Anfeindungen gegenüber einigen Musiker*innen und einer Reihe von Selbstmorden. Auch das Umfeld von Sparrow und seinem besten Freund Kai bleibt davon nicht verschont und der Kontakt zwischen den beiden bricht ab.

Thiens Roman ist vielschichtig und komplex konstruiert. Eine ihrer Figuren lässt sie feststellen, dass Zeit eben nicht linear verlaufe, sondern in Strudeln. Und so ist es auch in Do Not Say We Have Nothing: kaum steht man auf vermeintlich sicherem Boden in Vancouver, gerät man auch schon in den nächsten Strudel, der einen mitnimmt und wegträgt in die Tiefen der chinesischen Vergangenheit. Die Ereignisse sind komplex und stellenweise brutal, die zwischenmenschlichen Beziehungen von großer Klarheit und Aufrichtigkeit. Stellenweise kostet es etwas Mühe, der verschachtelten Geschichte zu folgen, manchmal geraten die Ausführungen zur klassischen Musik etwas langatmig. Dennoch ist Do Not Say We Have Nothing ein gelungener Roman über Familie, Freundschaft, und die Bedeutung von Loyalität in harten Zeiten.


tl;dr: Thien erzählt die Geschichte einiger Musiker*innen und ihrer Familien in China während und unmittelbar nach der Kulturrevolution. Der Roman konzentriert sich sehr auf die Musik, bietet aber auch ein spannendes Porträt der jüngeren Geschichte Chinas und eine beeindruckende Geschichte über die Bedeutung von Freundschaft und Loyalität.


Madeleine Thien: Do Not Say We Have Nothing. Granta 2016, 473 Seiten. Eine deutsche Übersetzung von Anette Grube ist unter dem Titel Sag nicht, wir hätten gar nichts bei Luchterhand erschienen und wird zudem im Juli 2021 bei btb erscheinen.

Thien war mit diesem Roman 2017 für den Women’s Prize for Fiction nominiert. Dieser Beitrag ist Teil des gleichnamigen Leseprojekts.