Die Staubgeborene – „Streulicht“ von Deniz Ohde

Ohdes Protagonistin hat einen Namen für drinnen und einen für draußen, der weniger türkisch klingt. Keinen von beiden erfährt man in diesem Roman. Sie wächst auf in einem Randbezirk von Frankfurt, weit weg von den hohen Bankentürmen. Ihre Skyline ist der Industriepark Höchst, ihre Chancen im Leben gering. Ihre Kindheit und Jugend sind geprägt von interfamiliären Konflikten. Der Vater ist Deutscher und hat seine türkische Frau bei einem Konzert in Frankfurt kennengelernt. Als er sie das erste Mal mit nach Hause bringt, hat der Großvater im Treppenhaus kaum ein Nicken für sie übrig. Die Mutter beißt sich durch. Sie erträgt die Ablehnung von Familie und Nachbarn, hilft, wo sie kann und nimmt lange hin, dass ihr alkoholkranker Mann regelmäßig ausrastet und die Wohnung zertrümmert. Irgendwann geht sie dann doch, nur mit einer kleinen Reisetasche, und lässt die Tochter beim Vater. Viel später wird sie noch einmal und endgültig, nach langer Krankheit gehen.

Ihre Tochter kämpft sich durch. Von der Grundschule an hat sie es nicht leicht. Die Lehrkräfte trauen ihr wenig zu, sie sich noch viel weniger und beim Eckenrechnen bleibt sie immer in der ersten Ecke stehen, weil sie sich nicht traut, die Lösung in den Raum zu rufen. Wenn sie die freiwilligen Extra-Hausaufgaben machen will, tadelt ihr Vater sie. Man solle sich nicht mehr Mühe geben, als man unbedingt müsse. Ihre Freundin Sophia hat es da leichter. Erstens, weil sie Sophia heißt, zweitens, weil sie nicht in einem Block aufwächst, sondern in einem Einfamilienhaus und ihre Mutter einen Bildungsplan für sie hat, in dem nicht nur gute Noten, sondern auch Voltigieren vorkommt.Der Traum, mit Sophia und ihrem Freund Pikka zusammen die Oberstufe zu besuchen, erfüllt sich für die Erzählerin nicht. Ohne Abschluss muss sie die Schule aufgrund schlechter Leistungen verlassen und hängt monatelang in der Luft und vor dem Fernseher, bevor sie sich schließlich aufraffen kann, eine Abend-Realschule zu besuchen. Und dann läuft es plötzlich doch: sie macht ihr Abitur, sie studiert, sie macht ihren Abschluss. Das Gefühl aber, fehl am Platz zu sein und allen etwas vorzumachen, bleibt.

„Ich war nicht schaumgeboren, sondern staubgeboren; rußgeboren, geboren aus dem Kochsalz in der Luft, das sich auf die Autodächer legte. Geboren aus dem sauren Gestank der Müllverbrennungsanlage, aus den Flusswiesen und den Bäumen zwischen den Strommasten, aus dem dunklen Wasser, das an die Wackersteine schlug, einem Film aus Stickstoff und Nitrat, nicht Gischt.“

Ohdes Protagonistin lebt in permanenter ängstlicher Anspannung. Immer hat sie die Sorge, etwas falsch zu machen, Grenzen zu überschreiten, aufzufallen. In der Schule traut sie sich kaum, sich zu melden, zu Hause muss sie immer leise sein, um den Vater nicht gegen sich aufzubringen.  Unbeschwerte Momente sind selten. Selbst, wenn sie mit ihren engsten Freund*innen zusammen ist, ist sie ständig auf der Hut. Jemanden nach Hause einladen kann sie sowieso nicht, viel zu peinlich sind die gehorteten Schätze ihres Vaters in der vergilbten, nikotingeschwängerten Wohnung. Der Vater kann nicht loslassen. Nicht die einst gesammelten Modellautos, nicht den Besitz des eigenen Vaters und erst recht nicht die uralte Bodylotion seiner verstorbenen Frau. Alles sammelt sich in Boxen, auf Tischen, auf dem Sofa. Auch seine Tochter möchte er gerne so lange es geht behalten, wie er sie kennt: zu Hause und als Schülerin fleißig über den Schreibtisch gebeugt. Als sie Jahre nach ihrem Auszug noch einmal für einige Tage zu Besuch kommt, ist sie von der Enge in jeglicher Hinsicht überwältigt. 

Ohde verleiht ihrer Erzählerin eine Stimme, die alle Verlorenheit und Unsicherheit transportiert, ohne dabei selbstmitleidig zu sein. Ungerechtigkeiten ihrer Kindheit und Jugend benennt die inzwischen Erwachsene klar und äußert dabei nicht wenig Kritik an einem Bildungssystem, das für sie und viele andere einfach nicht gemacht ist. Dass sie es trotzdem zu einem Universitätsabschluss gebracht hat, verdankt sie einzelnen, die mehr getan haben, als von ihnen verlangt wird. Noch schwerer aber wiegt die familiäre Situation, in der es keinen Aufstieg geben kann. Bis zuletzt bleiben Vater und Tochter distanziert im Umgang, überfordert von- und miteinander. Da hilft auch alle Liebe nichts.


tl;dr: Ohde schildert in ihrem Debüt-Roman mit klarer Stimme den Weg eines Mädchens aus einem Frankfurter Außenbezirk, dessen Weg nicht schön, aber vorherbestimmt zu sein scheint. Mit viel Ehrgeiz und sehr langem Atem kommt sie auf Umwegen an ihr Ziel, kann ihre Herkunft aber niemals abschütteln.


Deniz Ohde: Streulicht. Suhrkamp 2020. 284 Seiten. 

Das Zitat stammt von S. 224.

Deniz Ohde war mit diesem Roman auf der Shortlist des Blogger*innen-Preises „Das Debüt 2020„.

9 Gedanken zu “Die Staubgeborene – „Streulicht“ von Deniz Ohde

  1. Eli 8. Januar 2021 / 12:55

    Der Roman klingt wirklich unglaublich spannend, gerade weil ich ehemaliger Frankfurter bin und auch in einem nicht gerade so schönen Stadtteil groß geworden bin. Kommt definitiv auf meine Leseliste für 2021!

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  2. Silvia 14. Januar 2021 / 15:00

    Hallo Marion,
    Namenlose Erzäler scheinen im Moment modern zu sein. Solche Bücher habe ich im letzten Jahr mehrere gelesen. Im Buch versunken stört mich das nicht, ich finde es aber schwieriger, darüber zu schreiben. Das hast du gut hinbekommen.
    Ob das wohl das Siegerbuch wird? Wir werden es ja bald erfahren.
    Viele Grüße
    Silvia

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    • Silvia 14. Januar 2021 / 16:01

      Upd, Tippfehler. Ich weiß schon, dass man Erzähler mit h schreibt 😉

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    • Marion 14. Januar 2021 / 16:06

      Hallo Silvia, ich finde das manchmal auch sehr schwer. Besonders, wenn man dann vielleicht auch lange nicht weiß, ob man es mit einem Erzähler oder einer Erzählerin zu tun hat.
      Ich glaube, das Buch hat zumindest sehr gute Chancen, den Sieg davonzutragen. Morgen wissen wir mehr – ich bin gespannt! 🙂

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