Beengte Verhältnisse – „The Weight of Water“ von Anita Shreve

Anita Shreves Roman The Weight of Water beruht auf einer wahren Begebenheit: Im Winter 1873 wurden auf Smuttynose, einer winzigen Insel vor der Küste New Hampshires, die norwegischen Immigrantinnen Karen und Anethe Christensen im Schlaf überrascht und ermordet. Maren Hontvedt konnte fliehen, versteckt sich die ganze Nacht über hinter einem Felsen und rettet so gerade noch ihr Leben. Später gab sie an, ihr ehemaliger Untermieter Louis habe gewusst, dass die Ehemänner der Frauen in dieser Nacht nicht da seien und sei in das Haus eingedrungen, um Geld zu stehlen. Vom Widerstand der Frauen überrascht, habe er die Nerven verloren. Louis Wagner wurde für schuldig befunden und gehängt.

Im Roman kommt nun mehr als hundert Jahre später die Fotojournalistin Jean auf die Insel, um Bilder für eine Reportage zu machen. Gemeinsam mit ihrem Mann Thomas und ihrer Tochter Billie unternimmt sie dafür eine Bootstour zu der Inselgruppe, begleitet von Thomas Bruder und seiner neuen Lebensgefährtin. Zwischen eben dieser Lebensgefährtin und Thomas nimmt Jean bald ein deutliches Kribbeln wahr, das alle Alarmglocken bei ihr schrillen lässt. Hat sich ihr Mann so schnell in die jüngere, attraktivere Frau verguckt, die zu allem Überfluss seine Arbeit als Dichter verehrt? Jean traut sich kaum noch, die beiden alleine in einem Raum zu lassen. Das muss sie nun aber zumindest gelegentlich machen, denn ihre Arbeit erfordert vollen Einsatz. In einem Archiv in Portsmouth hat sie Unterlagen entdeckt, die ein ganz neues Licht auf den Fall werfen und die offizielle Version der Mordnacht schon nach wenigen Seiten hochgradig fragwürdig erscheinen lassen.

Anita Shreve stellt in The Weight of Water zwei Familien- und Partnerschaftssituationen gegenüber, die eine gewisse Unausweichlichkeit gemeinsam haben. Historisch ist das die norwegische Familie, die ihren Platz auf der winzigen und kargen Insel gefunden hatte. Jean staunt, als sie in den Resten der Fundamente steht, wie wenig Raum zwei Ehepaare sowie diverse Gäste und Untermieter sich teilen mussten. Sie selbst lebt nur vorübergehend in den sehr beengten Dimensionen eines Segelboots, ist aber schon nach wenigen Tagen genervt davon, dass man alles aus dem Leben der anderen mitbekommen muss und kein Raum für Privatsphäre bleibt. Die Problematiken schaukeln sich in beiden Fällen gleichermaßen hoch: während die Situation auf dem Boot immer mehr von Eifersucht und nicht ausgesprochenen Fragen vergiftet wird, liest Jean weiter in dem Dokument, das sie im Archiv gefunden hat und in dem Maren ihre Lebensgeschichte erzählt. Dieses Dokument wird, im Wechsel mit Jeans Teil, im Roman wiedergegeben. Auch in dieser Geschichte verschärfen sich die Konflikte zusehends und sind irgendwann an einem Punkt, an dem eine Versöhnung ebenso unmöglich wird wie ein Rückzug.

„Many fisher-families experience lives of isolation but ours was made all the greater because of the unique geographical properties of an island in the North Atlantic Ocean, which properties then convey themselves to the soul.“

In beiden Fällen gelingt es der Autorin, die vergiftete Atmosphäre und die allgegenwärtigen Spannungen spürbar zu schildern. Der historische Teil allerdings ist nicht durchweg überzeugend. Es wird schnell klar, dass Maren nicht in allen Punkten die Wahrheit sagt, man beginnt aber auch recht schnell zu ahnen, was wirklich hinter der Tat steckt. So schnell, dass der Part ziemlich vorhersehbar wird. Shreve verlässt sich dabei ausschließlich auf ihre poetische Freiheit. In der Realität gab es juristisch niemals Zweifel an Wagners Schuld, allerdings beteuerte er mit solcher Vehemenz seine Unschuld, dass große Teile der Bevölkerung gewillt waren, ihm zu glauben. Shreves Auflösung, so interessant angelegt sie ist, wäre allerdings nur mit sehr, sehr vielen Zufällen denkbar gewesen. Trotz dieser Schwächen bleibt der Text spannend und hat seine Stärken vor allem in den nervenaufreibenden Beziehungen zwischen den Charakteren.


tl;dr: In The Weight of Water schildert Shreve eine weitere mögliche Auflösung für einen realen Mordfall, der sich vor über hundert Jahren zugetragen hat. Dabei gelingt es ihr, die Beziehungen zwischen den Charakteren packend zu schildern, ihr „alternatives Ende“ allerdings hat deutlichere Schwächen.


Anita Shreve: The Weight of Water. Abacus 1998. 246 Seiten. Originalausgabe Little, Brown and Company 1997. Die deutsche Übersetzung von Mechthild Sandberg ist unter dem Titel Das Gewicht des Wassers 1997 bei Piper erschienen.

Der Roman wurde 2000 unter gleichem Titel unter anderem mit Sean Penn und Elizabeth Hurley verfilmt.

Das Zitat stammt von S. 139.

Mit diesem Roman stand Shreve 1998 auf der Shortlist für den Orange Prize for Fiction. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.