Ein standhafter Eigenbrötler – „Sweetland“ von Michael Crummey

Auf Sweetland, einer kleinen Insel vor der Küste Neufundlands, leben die Menschen seit zwölf Generationen. Unter den Begründern der Gemeinschaft waren auch die Vorfahren von Moses Sweetland, der heute noch auf der Insel lebt. Doch die Insel ist nicht mehr, was sie einmal war. Vom Fischfang kann kaum noch jemand leben, das Geld wartet auf dem Festland und auf den Ölbohrinseln. Die Jungen gehen weg und nehmen die beschwerliche Heimreise nur im äußersten Notfall auf sich. Es sind nur noch wenige, die ausharren, aus Sentimentalität oder weil sie woanders auch keine Chancen haben. Da kommt das Angebot der Regierung gerade recht: 100.000 Dollar Starthilfe sollen alle bekommen, die freiwillig gehen. Allerdings nur, wenn wirklich alle gehen. Die Lokalregierung hat kein Interesse mehr daran, die kostspielige Infrastruktur der Insel inklusive Strom, Internet und Fähre aufrechterhalten zu müssen. Die meisten Familien springen sofort darauf an, nur einige wenige zögern und wollen ihre Heimat nicht verlassen. Der sturste unter ihnen bleibt der siebzigjährige ehemalige Leuchtturmwärter Moses Sweetland. Er kann sich nicht vorstellen, seinen Lebensabend woanders zu verbringen und lässt sich auch von den anonymen Drohungen nicht schrecken, die ihn am Ende beinahe täglich erreichen.

„Es sind nicht die Sechzigerjahre, Mr Sweetland. Dieser Schritt wird dem Ort nicht aufgezwungen. Wir zahlen für die Umsiedlung der Bewohner, wie es von uns verlangt wurde. Doch wir werden nicht die Verantwortung für einen Verrückten mitten im Atlantik übernehmen, wenn alle anderen weg sind.“

Neufundland ist für den kanadischen Autor Michael Crummey ein literarisches Heimspiel. Er wurde in Buchans geboren und wuchs dort auf. Neben den sehr speziellen Lebensumständen der dortigen Bevölkerung ist, wie auch in Die Unschuldigen, die Einsamkeit in Sweetland ein vorherrschendes Thema. Der Protagonist lebt alleine, seit seine gesamte Familie verstorben ist. Geheiratet hat er nie, nicht zuletzt weil er nach einem Unfall sichtbare und großflächige Narben hat, derer er sich schämt. All seine Aufmerksamkeit und Liebe konzentriert er auf Jesse, den Enkel seiner verstorbenen Schwester. Jesses Entwicklung verläuft anders als geplant und er lässt nur wenige in seine Nähe. Moses allerdings begleitet er treu beim Fischen und Fallenstellen und unterhält ihn mit diversen Fakten über die lokale Flora und Fauna, die er von wikipedia kennt.

In der zweiten Hälfte des Romans erfährt Sweetlands Einsamkeit noch einmal eine ganz neue Qualität. Er lässt sich schlussendlich überreden, die Vereinbarung zu unterschreiben. Mit der Insel und seiner Vergangenheit hat er abgeschlossen, so glaubt er. Doch dann passiert etwas, das ihn doch zum Bleiben bewegt und er findet einen Weg, seine Abreise zu verhindern. Er hat diesen Schritt groß geplant und ausreichend Vorräte angelegt, außerdem kennt er die Insel und ihre Gewässer gut genug um sich mit Fisch und Wild versorgen zu können. Auch einen kleinen Gemüsegarten hegt er seit Jahren. Doch ohne die anderen ist Sweetland eben doch nur ein großer Fels irgendwo im Atlantik und Moses, so zurückgezogen er immer schon war, fürchtet bald den Bezug zur Realität zu verlieren.

Als Kenner Neufundlands gelingt es Crummey auch in diesem Roman, die Landschaft und die dort lebenden Menschen eindrucksvoll zu schildern. Leider gerät die Übersetzung an einigen Stellen etwas holprig und mitunter schleichen sich kleine Fehler ein, die einen beim Lesen stocken lassen. Doch Sweetland ist bevölkert von einer Reihe eigentümlicher aber glaubhafter Charaktere, die das wieder ausbügeln. Die Beziehungen untereinander sind rau aber ehrlich und herzlich, gewachsen über Jahrzehnte. Wie auch in Die Unschuldigen ist das Leben geprägt von einer gewissen Monotonie, ausgerichtet immer am Jahreslauf, den Möglichkeiten und Erfordernissen des Wetters. Unterbrochen wird dies beinahe nur durch die Erzählung von einem aufsehenerregenden Ereignis: vor Jahren hat Moses ganz zufällig ein Rettungsboot voll Geflüchteter aus Sri Lanka aufgegabelt und an Land gebracht. Kurze Zeit war Sweetland im Fokus des allgemeinen Interesses, bevölkert von ReporterInnen und auf allen Kanälen. Dieser Erzählstrang bietet etwas Abwechslung, wirkt aber auch fast deplatziert, denn die Geretteten verschwinden so schnell wie sie gekommen sind und hinterlassen keine sichtbaren Spuren auf Sweetland. Die übrigen Erzählstränge aber fassen gut ineinander und erzählen überzeugend die Geschichte eines Mannes, der eine Insel nicht nur im Namen, sondern auch in jeder Faser seines Körpers trägt.


tl;dr: Sweetland schildert, mit Herz und Brutalität, ein Leben, das heute kaum noch möglich scheint. Bis auf einen losen Erzählstrang ein überzeugender Roman mit einer gewissen Melancholie.


Michael Crummey: Sweetland. Aus dem Englischen von Peter Groth. Mitteldeutscher Verlag 2020. 399 Seiten. Originalausgabe: Sweetland. Doubleday Canada 2014.

Das Zitat stammt von S. 15.

Ich danke dem Verlag für das Leseexemplar.

4 Gedanken zu “Ein standhafter Eigenbrötler – „Sweetland“ von Michael Crummey

  1. Constanze Matthes 7. Oktober 2020 / 21:55

    Ich habe diesen Roman sehr sehr gelesen, er hat eine gut ausbalancierte Stimmung aus Humor und Melancholie und ganz besondere Figuren. Ich mag zudem diese stillen Geschichten, die die großen Themen verhandeln. Außerdem findet man Neufundland beziehungsweise das Umland nicht oft als literarischen Schauplatz. Viele Grüße

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    • Marion 7. Oktober 2020 / 22:31

      Das ist richtig – Neufundland ist ein seltener Schauplatz! Umso witziger fand ich die permanenten Seitenhiebe gegen schlechte Neufundland-Romane. Das scheint dann doch ein Markt zu sein!

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  2. Mikka Liest 11. Oktober 2020 / 12:38

    Hallo,

    die Rezension klingt nach einem großartigen Buch! Auf mich wirkt es so, als sei es womöglich ähnlich wie die Bücher von Kent Haruf, der ein wunderbares Gespür hat für zwischenmenschliche Dynamik im Allgemeinen und Außenseiter im Besonderen.

    Sowas lese ich sehr gerne!

    LG,
    Mikka

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    • Marion 11. Oktober 2020 / 16:52

      Leider ist meine letzte Haruf-Lektüre so lang her, dass ich das nicht mehr gut einschätzen kann. Aber der Fokus ist schon sehr darauf. So viel mehr gibt es von der Insel ja auch sonst nicht zu berichten 🙂 Es ist schon ein sehr besonderer Schauplatz und die Beziehungen manchmal schon sehr rührend, bei aller Raubeinigkeit.
      Und danke fürs Teilen!

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