Die Unschuldigen in Michael Crummeys Roman von der kanadischen Ostküste sind wirklich völlig unschuldig an ihrem Leid. Die Geschwister Evered und Ada wachsen im späten 18. Jahrhundert als Kinder von Fischern auf, die aus den kalten Gewässern gerade genug holen, um die Familie zu ernähren. Im Herbst verkaufen sie ihre Produktion an Bord der Hope, immer in der Furcht, dass die im Gegenzug erworbenen Lebensmittel nicht reichen werden um die Familie über den Winter zu bringen. Ein drittes Kind, eine Tochter, stirbt im Alter von wenigen Monaten. Als Evered noch nicht ganz zwölf ist und Ada gerade neun, sterben die Eltern kurz nacheinander an einer schweren Krankheit. Die Kinder kennen nichts als das Leben in der Bucht, selbst den in der Nähe liegenden kleinen Ort Mockbeggar kennen sie nur dem Namen nach.

Sie machen also da weiter, wo die Eltern aufgehört haben. Evered fährt mit dem Boot hinaus, fängt Kapelan und Kabeljau, Ada bestellt die Felder und sammelt Beeren. Als im Herbst endlich die Hope am Horizont auftaucht, ist die Ernüchterung groß: die Ausbeute aus der Arbeit der beiden Kinder ist so gering, dass sie kaum etwas dafür bekommen. Noch dazu hat der Vater ihnen Schulden hinterlassen. Aber die beiden sind so stur wie verzweifelt. Sie sind nicht bereit, ihre Bucht zu verlassen. Über die Jahre gelingt es ihnen, dem kargen Land genug für den eigenen Lebensunterhalt abzutrotzen. Mehr wird es nie, sie leben immer am absoluten Minimum. Aber da sie genau so aufgewachsen sind, fehlt ihnen auch nichts. Außer vielleicht ein paar Nährstoffen – nach einem besonders harten Winter verliert Evered einige Zähne.
„Wenn’s Gott und dem Wetter gefällt.“
Die Unschuldigen begleitet die Geschwister über etliche Jahre, in denen sich auch ihre Beziehung grundlegend verändert und mit fortschreitendem Alter auf ganz neue Probleme stößt. Ihre übrigen Sozialkontakte sind ausgesprochen rar und fast ausschließlich geschäftlicher Natur. Damit bietet das Romanpersonal nur sehr wenig Abwechslung und auch die Tätigkeiten von Evered und Ada wiederholen sich stets im Jahreslauf. An einigen Stellen hat der Roman dann auch größere Schwierigkeiten, die Spannung zu halten. Das aber fängt der Autor auf mit atmosphärischen Schilderungen der Bucht und ihrer Bewohner. Der Grundton des Romans ist durchgehend drückend, fast bedrückend, und finster, teilweise durchsetzt mit brutalen Szenen, vor allem, wo es um das Jagen geht. Das ärmliche Leben bietet nur sehr wenig Raum für Freude und Unbeschwertheit, die größte Freude bleibt eine reiche Beerenernte. Der Erfahrungshorizont der Geschwister bleibt dabei der sehr begrenzt und umfasst beinahe nur das, was in der Bucht von Relevanz ist.
Dem Autor gelingt es, das entbehrungsreiche Leben der Geschwister und ihre bedingungslose Hingabe an ihr Dasein glaubhaft und lebendig zu schildern. So sehr man den beiden einen leichteren Weg wünscht, weiß man doch von Beginn an, dass sie ihn nicht gehen würden.
tl;dr: Guter, manchmal brutaler Roman. Gut zu lesen, wenn es einen nicht stört, dass er fast immer von den gleichen beiden Personen in der gleichen Bucht handelt.
Michael Crummey: Die Unschuldigen. Eichborn 2020, 346 Seiten. Aus dem Englischen von Ute Leibmann. Originalausgabe: The Innocents. Doubleday Canada 2019.
Das Zitat stammt von S. 47.
Ich danke dem Verlag für das Leseexemplar.
Liebe Marion,,, nach Deiner Rezension bin ich nun fast froh, dass ich kein Rezi Exemplar mehr bekommen habe . Der Schreibstil erscheint wohl atmosphärisch, aber sicher nicht poetisch schön ? Das folgere ich nach Deinen Ausführungen? Oder liege ich da falsch? Danke für die Rezi!
LG Angela vom Literaturgarten
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Liebe Angela,
poetisch schön fand ich es nicht. Tatsächlich hatte ich das auch irgendwie erwartet, weil es immer meine erste Assoziation mit einsamen Buchten ist… schön und idyllisch! Aber als wild-romantischer Rückzugsort taugt nun gerade diese Bucht wirklich nicht.
Viele Grüße,
Marion
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