Lev ist knapp über 40 als er beschließt, seine osteuropäische Heimat zu verlassen und sein Glück in England zu suchen. Seine Frau ist jung gestorben, nun lebt er mit Mutter Ina und Tochter Maya in einem kleinen Dorf, in dem es seit der Schließung des Sägewerks keine Arbeit mehr für ihn oder irgendwen gibt. Er lässt die beiden zurück in der Hoffnung, dass 20 £ wirklich für eine Woche in London reichen und er bald genug verdient, um den Überschuss in die Heimat zu schicken.
„My daughter Maya needs clothes, shoes, books, toys, everything. England is my hope.“
Bei seiner Ankunft in London sind Levs Pläne vage und ohne große Ambitionen. Hauptsache irgendeine Arbeit. Er landet schnell in der Gastronomie, wo er sich vom Tellerwäscher immerhin zum Beikoch hocharbeitet und genug verdient, um etwas Geld nach Hause zu schicken. Er lebt sparsam in einem Kinderzimmer, das noch komplett mit Kaufmannsladen und Etagenbett eingerichtet ist. Aber immerhin ist der Vermieter nett und gesprächig und mit £ 90 Miete pro Woche ist Lev noch ganz gut dabei. Es dauert nicht lange, bis er sich Hals über Kopf in eine Kollegin im Restaurant verliebt. Doch die kulturellen Unterschiede sind zu groß und mit der Beziehung endet auch seine Karriere. Als er dann auch noch von einem Landsmann erfährt, dass sein Heimatdorf einem Staudamm weichen soll, will er schnellstmöglich zurück. Aber mit leeren Händen kann er natürlich nicht nach Hause kommen.
Tremain erzählt mit The Road Home die nicht ganz neue Geschichte eines überforderten Einwanderers. Obwohl er sich legal in Großbritannien aufhält, sind die Hürden hoch für Lev, nicht zuletzt aufgrund seiner schwachen Englischkentnisse. Aber er beißt sich durch und schafft einen kleinen Aufstieg, vor allem dank des Rückhalts und der Unterstützung durch andere Migranten, besonders Lydias, die er schon bei der Anreise im Bus kennengelernt hat. Schnell wird ihm klar, dass er niemals wirklich dazugehören wird, dass er niemals Engländer sein wird. Levs Heimat bleibt konsequent unbenannt. Nicht einmal im Gespräch mit Landsleuten wird der Name genannt, es ist immer nur „in unserem Heimatland“. Bergig ist es da und postsowjetisch, mehr erfährt man nicht. Das erleichtert der Autorin die Recherche und macht noch dazu den Inhalt allgemeingültiger, es klingt aber auch wahnsinnig gestelzt.
Während Lev in der ersten Hälfte des Romans noch ein netter Kerl ist, der es einfach richtig machen will, wird er in der zweiten Hälfte ziemlich unsympathisch und stellenweise brutal. So rastet er bei einer Party aus und würgt seine Freundin, bis andere Gäste dazwischen gehen. Der Roman beschreibt sein Verhalten zwar, thematisiert es dann aber nie wieder und macht weiter, als sei nichts geschehen. Das führt schnell dazu, dass einem der Protagonist und sein weiteres Vorankommen herzlich egal werden. Einige Szenen werden unnötig lange ausgeschmückt, wie beispielsweise ein Abendessen in einem Altersheim, in dem Lev ehrenamtlich hilft. Tremain hatte scheinbar Freude an dieser Szene, das sei ihr gegönnt, aber sie dauert ewig und trägt nichts zur Handlung bei. Auch, dass Lev nach dem Ende seiner Gastro-Karriere Spargelstecher in Sussex wird, hat keine weitere Relevanz im Roman. Offenbar war es Tremain wichtig, die Ausbeutung osteuropäischer Arbeiter in der Landwirtschaft auch noch in den Roman zu bringen. Das allerdings geschieht auf eine ziemlich verklärte Weise. Der Chef zahlt zwar mies und lässt seine Arbeiter in völlig abgewrackten Wohnwagen leben, aber auch er leidet – wie übrigens beinahe alle Männer in diesem Roman – darunter, dass seine Frau ihn kürzlich verlassen hat und ist sonst ein netter Kerl. Die Arbeiter machen das beste aus der Situation und leben in einer Art Spargel-Feriencamp, ohne jemals zu klagen.
The Road Home ist ein sprachlich durchaus gelungener Roman, krankt aber in der Charakterisierung der Personen und eben auch in der Handlung. Tremain versucht, möglichst viele Aspekte von Levs Erfahrung als Migrant aufzunehmen, gibt ihm aber nur etwas mehr als ein Jahr Zeit, diese zu sammeln. Dadurch aber wird der Roman stellenweise sehr, sehr unrund und bemüht, da auch die Art und Weise der Thematisierung nicht immer geschickt ist. So beklagt sich beispielsweise ein arabischstämmiger Freund Levs, dass er kaum noch Kundschaft habe, da „seitdem“ niemand mehr den Arabern traue. Dass „seitdem“ die Anschläge auf die Londoner U-Bahn im Juli 2007 meint, muss man raten, da dieses zuvor nie thematisiert werden. Hinzu kommen einige (wenige) Fehler, wie beispielsweise eine am Weihnachtstag in London fahrende U-Bahn, die den Roman nicht ruinieren, beim Lesen aber doch zumindest irritieren.
Romane über Migranten, auch in Großbritannien, sind nun wirklich kein rares Gut. Wirklich gute sind schon bedeutend seltener. Mit The Road Home schafft Tremain es leider nur ins Mittelfeld.
tl;dr: The Road Home handelt von einem osteuropäischen Migranten in Großbritannien. Die Geschichte holpert an einigen Stellen ganz schön und die Charakterisierung des Romanpersonals ist nicht durchgehend überzeugend.
Rose Tremain: The Road Home. Chatto & Windus 2007. 365 Seiten. Eine deutsche Übersetzung von Christel Dormagen ist unter dem Titel Der weite Weg nach Hause bei Insel lieferbar.
Das Zitat stammt von S. 5.
Tremain war mit diesem Roman 2008 auf der Shortlist des Orange Prize for Fiction. Es war nach 2004 (The Colour) ihre zweite Platzierung auf der Shortlist. Dieser Beitrag ist Teil des Leseprojekts Women’s Prize for Fiction.
Der Roman war meine erste Leseerfahrung mit der Autorin. Ich habe dieses Buch damals sehr sehr gern gelesen. Ich sollte sie mal wieder lesen und finde es sehr schön, dass du mit deinem Beitrag an ein älteres Buch erinnerst. Viele Grüße
LikeLike
Es freut mich sehr, dass ich dich an eine schönes Leseerlebnis erinnern konnte! Das „Women’s Prize“-Projekt spült ja immer mal wieder alte Schätze an die Oberfläche und ich habe schon einige Bücher entdeckt, die eigentlich hoffnungslos in den Tiefen der Backlist verschwunden waren.
Ein weiteres Buch von Tremain, das ebenfalls für den Preis nominiert war, ist „The Colour“, das vier Jahre vor „The Road Home“ erschienen ist:
https://schiefgelesen.net/2018/01/27/rose-tremain-the-colour/
Für mich hatte das zu viel magischen Realismus, aber da gehen die Meinungen ja durchaus auseinander. Vielleicht ist es für dich ja eine lohnende Wiederbegegnung mit der Autorin?
Viele Grüße!
LikeGefällt 1 Person